Weder ist eine handgezeichnete Karte nötig, noch muss man eine weitere Strecke schwimmend zurücklegen, um an diesen Ort zu gelangen. Anders als der geheime Traumstrand im Hollywoodstreifen „The Beach" ist Cala Varques an der Ostküste Mallorcas längst auch ein beliebtes Ziel für Touristen.

Zwar wird die Bucht immer noch gerne als jungfräuliches Paradies beschrieben - doch ein Geheimtipp war der etwa 90 Meter breite Küstenabschnitt mit feinstem, ­weißen Sand vielleicht bis vor zehn Jahren. Heute meistern inzwischen nicht mehr zu verfehlenden Trampelpfad sogar Rentner jenseits der 70 problemlos. Im seichten, türkisblauen Wasser spielen Kleinkinder, während ihre Mütter und Väter in der Strand­muschel dösen. Und entlang des holprigen Feldwegs, der zu dem zumindest noch pro forma mit einem graffiti­beschmierten Eisentor versperrten Zugang führt, reihen sich die Mietwagen aneinander.

Tagsüber ist der Strand ein Massenziel. Erst wenn es Abend wird, merkt man, dass dieser Strand anders ist als all die anderen Strände der Insel. Allmählich überdecken Marihuana­schwaden den Duft nach Sonnenmilch, statt des Smalltalks deutscher oder britischer Urlauber sind nun leises Trommeln und Gitarrenklänge zu hören. Erst wenn die Strandbesucher mit all ihren Schirmen, Handtüchern und Kühlboxen abgezogen sind, werden diejenigen sichtbar, die Cala Varques zumindest zeitweise zum Wohnsitz ­auserkoren haben.

Wir blicken zurück, auf einen Strandbesuch im Oktober 2013. „Bislang waren wir im Schnitt an die 30 Leute hier", sagt David, der offensichtliche Anführer der Strandkommune. Dann führt der junge Mann, der auf dem Haupt eine Mischung aus Rastalocken und Irokesenschnitt und um die Lenden nichts weiter als ein gekonnt gewickeltes rotes Stück Stoff trägt, bereitwillig durch die beachtliche Siedlung. Im Schutz des Kiefernwalds, ein Stückchen den Hang hinauf, stehen mehrere Zelte. Zwischen den Bäume sind, teils in drei Etagen übereinander, gut ein Dutzend Hängematten gespannt. In der Mitte befindet sich eine Art Wohnzimmer samt Schaukelstuhl, allerlei Sitzmöbeln und Tischen, überdacht von wild über- und untereinander gespannten Planen und Sonnensegeln. „Wenn ihr wollt, könnt ihr euch hier einen Platz zum Schlafen suchen", erklärt ein Lockenkopf, der sich inzwischen an Davids Seite gesellt hat. Das sei der Gemeinschaftsbereich, der allen offen stünde. Er sagt es ein wenig halbherzig.

Neuankömmlinge sind - wie im Film von Danny Boyle - nicht wirklich gern gesehen. Doch wer schon einmal da ist, wird auch hier nicht wieder fortgeschickt. Allerdings muss, wer sich der alternativen Wohngemeinschaft anschließen möchte, die Spielregeln akzeptieren. „Jeder muss eine Aufgabe übernehmen", sagt ein Spanier mit geblümter Badehose. Das Camp aufräumen, die Überdachungs­konstruktion festzurren oder die Einkäufe, die aus der Gemeinschaftskasse bezahlt werden, erledigen.

Bis zum nächsten Supermarkt in Manacor sind es immerhin rund 20 Minuten Fußmarsch und zwölf Kilometer Autofahrt. Und allein das Schleppen der Fünf-Liter-Wasser­galonen macht das Leben in Cala Varques zur logistischen Herausforderung. Das Lagern der Lebensmittel ist hingegen auch bei hochsommerlichen Temperaturen kein Problem. In einer kleinen Höhle bleiben Getränke, aber auch Gemüse, Obst und Käse tagelang frisch - vom leicht modrigen Geruch der Speisekammer einmal abgesehen.

Gekocht werde dann meist in kleinen Gruppen, erzählt David, während er einen Teller Nudeln mit Tomatensoße auf dem Schoß balanciert und nach einem Salzstreuer greift. Ein herkömmlicher Gas­kocher und Camping-Töpfe sind für größere Mengen schließlich eher ungeeignet - wobei es in der improvisierten Küche weder an Geschirr, noch an Kochutensilien und Gewürzen aller Art mangelt. „Und wir ernähren uns gesund", witzelt David und beginnt, eine große Honigmelone aufzuschneiden. „Hier, nimm dir ein Stück!"

Obwohl am Eingang zum Camp eine riesige Mallorca-Flagge weht, sind die Bewohner durchaus international. Zu Spaniern, die sich wie David gerne als Hippies bezeichnen, gesellen sich Teilzeit-Aussteiger aus ganz Europa. Abgesehen von der Stammbesatzung, die sich längst auch eine naheliegende, großräumige Höhle mit Betten, Matratzen, Kommoden und allerlei Krimskrams gemütlich eingerichtet hat, herrscht reges Kommen und Gehen. Ein französisches Pärchen etwa hat sich vor rund zwei Wochen mit seinem Zelt in der Bucht niedergelassen. „Ist alles super entspannt hier, total unkomplizierte Leute, mal sehen, wie lange wir noch bleiben", radebrechen sie in einer Mischung aus Spanisch und Englisch. Zwei Jungs aus Österreich, drahtige Kletterer, sind auf Empfehlung her­gekommen und „hängengeblieben". In der Bucht nebenan befindet sich einer der Mallorca-Hotspots für psicobloc, ungesichertes Klettern über dem Wasser.

Erst vor ein paar Tagen sind Bauchi und sein Kumpel Patrick aus Deutschland angereist, wo sie Wohnung und Job aufge­geben haben, um nun ein „anderes, stressfreieres Leben ohne Krankenversicherung" zu führen. Ab und an werde er die paradiesische Bucht zwar verlassen müssen, um sich irgendwo auf der Insel ein paar Euro für den Lebensunterhalt zu verdienen, sagt Bauchi, doch sein Hauptwohnsitz soll vorerst Cala Varques bleiben. „Bis November kann man es hier bestimmt gut aushalten", mutmaßt er, lehnt sich in seinem Liegestuhl zurück und gähnt herzlich.

Eine Spanierin mit langen, dunklen Locken versucht hingegen, direkt vor Ort etwas Kleingeld einzunehmen, indem sie ihren selbst gemachten Schmuck, Ohrringe und Ketten, an Touristen verkauft. Auch Pablo, der ursprünglich aus Kolumbien stammt, schon lange in Spanien lebt und die Sommer regelmäßig in Cala Varques verbringt, hatte vor, hier ein wenig Geld zu verdienen. „Vergangenes Jahr habe ich mich um den Job als Rettungsschwimmer beworben", erzählt er und bindet sich die schulterlangen Haare zum Zopf. Dass daraus nichts wurde, scheint ihn, momentan zumindest, wenig zu kümmern. So bleibt mehr Zeit für angenehme Dinge. „Wir gehen eine Runde rüber - Klippenspringen", sagt er und springt auf. Und am Abend ginge es auf eine Party nach Palma. „Wenn ihr Lust habt: Wir fahren mit dem Auto."

Den Job des Rettungsschwimmers macht nun ein stämmiger Mallorquiner um die 30, der bei der Gemeinde Manacor angestellt ist. Solange noch Badewetter ist, komme er morgens gegen 9 Uhr her, erzählt er. Seine Ausrüstung - Sonnenschirm, Klappstuhl und Rettungsboje - lagert er in der Höhle der Hippies. Dass diese die Bucht inzwischen ganz schön in Beschlag genommen haben, scheint ihn wenig zu stören. „Ja, es ­werden jedes Jahr mehr", sagt er und zuckt mit den Schultern. „Ich hab mit denen kein Problem."

Sein Arbeitgeber theoretisch schon. Laut Gemeindeordnung ist das Campen am Strand strengstens verboten - schon das Nächtigen auf einer Isomatte kann teuer werden. Im Laufe des Sommers hat die Guardia Civil immer wieder in Cala Varques vorbeigeschaut, meist frühmorgens, und so manchem Strandschläfer ein Bußgeld in Höhe von 100 Euro abgeknöpft. David und seiner Kommune ist das bislang nicht passiert. „Im August war die Polizei teils drei Mal die Woche da", erzählt er. „Aber selbst wenn die dreimal deine Adresse aufschreiben, können sie dir noch nichts anhaben." Zumal die Adresse nicht unbedingt stimmen müsse.

Doch so wie es aussehe, werde das Camp ohnehin geduldet - zumindest bislang. „Wir machen ja auch nichts Schlimmes hier", sagen David und der Lockenkopf. Natürlich nicht. Aber was ist mit den Müllsäcken und dem ganzen Unrat im Unterholz? Holz­paletten, kaputte Sonnenschirme und Liegestühle, ausrangierte Schlauchboote und Kühltaschen. „Wir räumen unseren Dreck weg", reagieren die beiden nun sichtlich gereizt. „Und obendrein auch all das, was die Touristen liegenlassen." Sogar aus dem Meer hätten sie den Sommer über säckeweise Müll gefischt, erklären die beiden. „Manchmal sagen wir den Leuten aus dem Rathaus Bescheid, damit sie es abholen. Alles können wir ja unmöglich selbst wegbringen."

Maria, eine blonde Mallor­quinerin um die 50, und ihr jüngerer ­Kollege müssen ihre Ware hingegen tagtäglich auf den eigenen Schultern nach Cala Varques tragen. Die beiden kümmern sich abwechselnd um das im Wesentlichen aus einem Holztisch und einem Sonnensegel bestehende Chiringuito, eine Mini-Strandbar, die sie - ohne auch nur eine Lizenz zu beantragen - seitlich des Strandes unter einem kleinen Felsvorsprung eingerichtet haben.

„Die Tomaten sind gleich alle", ruft Maria aufgeregt in ihr Handy, während sie mit der anderen Hand Olivenöl auf ein aufgeschnittenes Brötchen träufelt. Jemand müsse ihr dringend Nachschub bringen. Die Nachfrage nach ihren Käse- und Salami-Sandwiches ist an diesem Tag riesig - trotz des stolzen Preises von 5 Euro. Auch der Vorrat an Wasser, Bier, Cola - sogar Cocktails sind im Angebot - wird bis zum Abend immer kleiner, so dass der Fußmarsch zurück zur Zufahrtsstraße deutlich leichter ist.

David und die anderen Bewohner der Bucht bleiben. Einige von ihnen machen es sich, als die Sonne bereits untergeht, mit einer Flasche Wein im noch warmen Sand gemütlich, es wird herumgealbert und viel gelacht, Bauchi und sein Kumpel nehmen ein letztes Bad im Meer, die Schmuckverkäuferin tollt mit ihrem Hund umher. Dass die Vierbeiner an Mallorcas Stränden verboten sind, interessiert hier niemanden. Leben und leben lassen lautet die Devise in Cala Varques.

Zwei Stunden später ist fast vollkommene Stille eingekehrt. Nur Pablo entlockt seinem Digeridoo hin und wieder ein paar sphärische Klänge. Bald sind nur mehr der Mond und die Sterne am Himmel zu sehen, im Hintergrund das gleichmäßige Rauschen der Wellen. Und allmählich beginnt man zu verstehen, warum dieser Ort - auch wenn er theoretisch gegen jede andere, etwas abgelegene Bucht der Insel austauschbar wäre - etwas hat, das Lebenskünstler und Glückssuchende magisch anzieht. Nachts zumindest ist Cala Varques immer noch ein Paradies.