Virginia Soriano wird den Abend wohl niemals vergessen, an dem Diego (Name von der Redaktion geändert) zum ersten Mal in ihre Wohnung kam. Der Fünfjährige war verschreckt, im Schockzustand und sah kränklich aus. „Sehr blass und sehr dünn, es war schlimm anzusehen", erinnert sich Virginia. Kein Wunder: Wenige Stunden zuvor hatten Mitarbeiter des Jugendamts Diego von seiner leiblichen Mutter weggeholt, einer Alkoholikerin, die schon mehrmals wegen Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht ermahnt worden war. Bei Virginia Soriano sollte das Kind nun vorerst bleiben. Für einen Monat? Für ein halbes Jahr? Ungewiss.

Diego ist eines von rund 700 Kindern auf den Balearen, die nicht ohne fremde Hilfe in ihrer Ursprungsfamilie leben können. Manche haben eine Vormundschaft oder leben bei Verwandten, etwa 130 leben wie Diego in einer Pflegefamilie. Familia canguro nennen die Spanier das. Knapp 300 weitere Kinder sind auf die fünf Kinderheime auf Mallorca verteilt. Etwa 20 pro Jahr werden letztlich adoptiert.

„Ich habe auch zunächst überlegt, ein Kind zu adoptieren, statt es in Pflege zu nehmen", sagt Virginia Soriano. „Doch die Wartezeit für Inlands-Adoptionen ist sehr lang." Sieben bis neun Jahre dauert es im Durchschnitt auf den Balearen von dem Zeitpunkt der Einschreibung bis hin zur Adoption. Zum Vergleich: In Deutschland sind es laut Bundes­familienministerium rund 18 Monate.

Und so entschied sich Virginia Soriano für die „Känguru"-Variante. Koordiniert wird die Vermittlung vom „Institut Mallorquí d'Afers Socials" (IMAS). „Wir versuchen bis zum letzten Moment, dass die Kinder irgendwann in ihre Ursprungsfamilien zurückkommen", erklärt IMAS-Leiterin Margalida Puigserver. Pflegefamilien dienten dazu, die Zeit zu über­brücken, bis endgültig entschieden ist, wohin es mit dem Kind gehen soll. „Es ist für Kinder immer besser, in einer ­Familie unterzukommen als im Heim, weil die Betreuung viel persönlicher ist", so Puigserver.

Viele Pflegefamilien seien bereits seit Jahren im Katalog des IMAS und schon geübt im Umgang mit Kindern, die nicht bei ihren Eltern bleiben können. „Manche Familien nehmen mehrere Kinder gleichzeitig auf. Häufig bleiben sie nur ein paar Wochen oder Monate", so Puigserver. Pro Kind bekommen die familias canguro Geld vom IMAS, um den Lebensunterhalt des Minderjährigen bestreiten zu können.

Pflegeeltern können all diejenigen werden, die volljährig und bei guter Gesundheit sind, Alleinstehende genau wie Paare „Wir haben viele Mitarbeiter, die jeden Haushalt vorher gründlich prüfen", berichtet Puigserver. Es gehe nicht um finanzielle Polster, sondern um eine kindgerechte Umgebung. Zudem müssen die canguros zuvor einen Vorbereitungskurs besuchen.

„Acht Nachmittage lang hatten wir Unterricht", erinnert sich Virginia Soriano. Das war im Februar 2016, wenige Monate später trat Diego in ihr Leben. „Der Kurs war mehr als hilfreich", findet sie. Hier habe sie in der Theorie gelernt, mit schwierigen Situationen umzugehen. Mit Verhaltensstörungen des Kindes beispielsweise. „Diego ist bestimmt nicht der leichteste Fall. Er hat viele Traumata und braucht sehr viel persönliche Zuwendung", so Virginia. Und die gibt sie ihm. Die 39-jährige Alleinstehende bringt Diego zum Arzt, wenn er Bauchweh hat, wiegt ihn in den Schlaf, wenn er unter Albträumen leidet, und nimmt ihn immer wieder auch mit zu ihren Eltern und Geschwistern. „Er ist komplett in meine Familie integriert."

Jene erste Begegnung in ihrer Wohnung ist mittlerweile fast genau ein Jahr her - länger, als die meisten Pflegeverhältnisse dauern. Doch das Ende zeichnet sich ab. Mehrmals hat Virginia mit ihrem Pflegesohn in den vergangenen Wochen seine zukünftige Adoptivfamilie besucht - zu seiner echten Mutter kann er nicht zurück. „Es sind tolle Menschen, er wird es dort gut haben", sagt Virginia tapfer. Gänzlich verbergen kann sie ihren Schmerz aber nicht. Sie habe im Kurs gelernt, wie wichtig es ist, loszulassen. Denn das eigene Pflegekind darf man grundsätzlich nicht adoptieren, das wird den angehenden Pflegeeltern von Anfang an deutlich gemacht. „In einem Jahr wächst man sehr stark zusammen", sagt Virginia. „Es tut weh. Aber ich würde es jederzeit wieder tun."