Im Nebenraum des Büros von Sonia Vidal rumort es. „Unsere Computer werden gerade aufgerüstet", erklärt die Dekanin, die als Sprecherin der Richter auf Mallorca fungiert. „Aber was nützt schon mehr Arbeitsspeicher, wenn das System nicht funktioniert?" Dabei habe man es am Sozialgericht in Sa Gerreria noch vergleichsweise gut - bei den Kollegen im Strafgericht an der Avenida d'Alemanya sei das Informatiksystem komplett falsch konzipiert und sorge für Mehrarbeit, Rechtsunsicherheit und Frust.

Die Digitalisierungspannen sind der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Seit Jahren klagen die Richter und Justizangestellten über mangelnde Ressourcen bei Ausstattung und Personal bei gleichzeitig zunehmender Arbeitsbelastung und politischer Einmischung in die Justiz. Bereits vor sechs Jahren sprach Vidals Vorgänger Francisco Martínez Espinosa im MZ-Interview von „Warnstufe Orange" - und seitdem sei es noch schlimmer geworden, auch wenn sich das keiner habe vorstellen können, so die Dekanin. Grund genug für den zweiten Richter-Streik in Spaniens Geschichte am vergangenen Dienstag (22.5.).

Dürfen Richter streiken?

Auch wenn sich 105 von 201 Richter und Staatsanwälten auf den Balearen beteiligten - der Ausstand fand diskret statt. Ohnehin ist in der spanischen Gesetzgebung nicht klar geregelt, ob Richter überhaupt streiken dürfen. Offiziell lief die Aktion deswegen als Protest. Ein Antrag auf Festlegung des Mindestbetriebs, wie bei anderen Ausständen in Spanien üblich, wurde vom Justizministerium abgelehnt, und die Richter entschieden kurzerhand selbst, ­welche Verhandlungen und Verfahren verschoben wurden - es waren letztendlich 258 - oder wegen Dringlichkeit trotzdem stattfanden. Auch eine öffentliche Protest­aktion gab es nicht, nur einen Pressetermin.

Dass sich etwas nach dem Streiktag ändern wird, daran glaubt Vidal selbst nicht so recht - aber Schweigen sei nun mal auch keine Alternative. Der Ärger kocht so hoch, dass die Dekanin kein Blatt vor den Mund nimmt, über die spanienweiten Zustände, aber auch speziell die auf den Balearen, wo sich die Probleme wegen der höheren Arbeitsbelastung noch deutlicher zeigten - die Insel-Bewohner sind nicht nur klagefreudiger als der Rest Spaniens, die große Zahl an ausländischen Residenten und Touristen im Sommer tut ihr Übriges.

Sieben landesweite Vereinigungen von Richtern und Staatsanwälten verhandeln seit Monaten mit dem spanischen Justizministerium über einen 2016 erstellten Katalog mit 14 Forderungen, die um die Unabhängigkeit der Justiz, ihre Modernisierung und die Arbeitsbedingungen kreisen, nicht zuletzt um das im EU-Schnitt deutlich unterdurchschnittliche Gehalt. Doch es bewegt sich nichts. Während andere Bereiche der öffentlichen Verwaltung nach dem Ende der schweren Wirtschaftskrise in Spanien wieder besser finanziert würden, werde die Justiz weiterhin kaputt gespart, kritisiert Catalina Martorell von der Richter-Vereinigung „Juezas y Jueces para la Democracia" gegenüber der Zeitung „Ara".

Chronischer Personalnotstand

Auch in anderen europäischen Ländern gibt es Personalprobleme in der Justiz, aktuelles Beispiel ist die Überlastung der Verwaltungsgerichte in Deutschland infolge der Flüchtlingskrise. Doch der Rückstand in Spanien sei gewaltig, argumentiert Vidal. Während europaweit 21 Richter auf 100.000 Einwohner kommen, sind es auf den Balearen gerade einmal 13,4.

Und es fehlt nicht nur an Richtern, besonders Gutachter und Übersetzer müssten dringend eingestellt werden. Die Dekanin nennt als Beispiel ein Gutachten für den Wert eines Außenspiegels in einem Schadensersatzverfahren. „Da werden derzeit die Fälle von vor dreieinhalb Jahren abgearbeitet". Ohnehin seien inzwischen rund die Hälfte der Arbeitsverträge im balearischen Justizapparat befristet und die Stellen mit Personen besetzt, die nicht die staatlichen Zulassungsprüfungen der oposiciones durchlaufen hätten und deswegen weniger qualifiziert seien. Und statt die Strukturen auszubauen, gebe es nur Vertretungsstellen, die nun wieder wegzufallen drohten.

Informatik-Desaster

Der Rückstand bei der materiellen Ausstattung der spanischen Justiz fällt insbesondere im Vergleich mit anderen Ministerien auf. Während das spanische Finanzministerium als Vorzeigebeispiel für eine gelungene Digitalisierung gilt, kam diese Initiative in den Justizbehörden erst vor Kurzem an - und zeichnet sich nach Einschätzung der Mitarbeiter durch ihre mangelnde Erprobung und Praxisferne aus. Nicht nur, dass das System regelmäßig ausfalle, Akten seien auch schwierig zu finden. Ein Beispiel: Selbst für einfache Verfahren wie eine rund zehnminütige Anhörung nach einem Diebstahl im Supermarkt müsse der zuständige Richter zunächst im System rund 300 am Vortag aufgelaufene Dateien einzeln öffnen, bis er die benötigte Anzeige der Polizei finde.

Manche Akten verschwänden auch ganz aus dem System. „Das ist eine tickende Zeitbombe", meint Dekanin Vidal, „für das Projekt sind Leute verantwortlich, die noch niemals ein Gerichtsgebäude betreten haben." Dass es noch zu keinen größeren Skandalen gekommen sei, liege an der Umsicht der Mitarbeiter und der zusätzlichen Zeit, die sie für zusätzliche Nachprüfungen aufwendeten.

Viele der derzeitigen Negativschlagzeilen über Versäumnisse der Justiz seien nicht zuletzt auf Informatik-Probleme zurückzuführen. Das Ressourcen-Problem wird somit zum Image-Problem. Zusätzlich genährt werde es durch die Einmischung von Politikern in gerichtliche Verfahren. Vidal spricht von einem „offenem Krieg", den Justizminister Rafael Catalá heraufbeschwöre. Die Justiz drohe im Kleinen wie im Großen zu versagen - bei alltäglichen Zivilverfahren, bei denen einfache Bürger jahrelang nicht zu ihrem Recht kämen, aber auch hinsichtlich ihrer Funktion als Judikative im Rahmen der Gewaltenteilung. Knausert die Regierung bei der Ausstattung der Justiz gar mit Absicht, um eine zu starke Judikative zu verhindern? „Dass wir diskriminiert werden, liegt auf der Hand", meint die Dekanin. „Über die Motive kann ich allerdings nur spekulieren."