Hinweis: Dieser Artikel ist erstmals im Juli 2018 in der Mallorca Zeitung erschienen.

Mallorca, Frühjahr 1966. Vor fast allen Hütten sind Feuerstellen entfacht. Es ist Mittagszeit. Neben Müllsäcken kochen Frauen auf schmutzigen Pfannen Reis. Ratten laufen zwischen den Unterkünften umher. Sie sind teils aus Holz, teils nur aus Pappe und Wellblech gefertigt. „Keine Fotos", ruft eine Frau einem Pressefotografen zu. Auch ein griesgrämig dreinblickender Mann gibt sich abweisend. „Wir werden so lange hierbleiben, bis sie uns rausschmeißen", ist alles, was er erzählen möchte - Quinini, der Anführer der Roma, die sich Anfang der 50er-Jahre auf freiem Feld bei Palma de Mallorcas Stadtteil El Molinar niedergelassen haben.

Die Erzählungen des Artikels im „Diario de Mallorca" vom 13. März 1966 klingen heute, gut 52 Jahre später, grotesk. So, als würden der Fotograf und sein Kollege nicht im Franco-Spanien zwischen Baracken bei El Molinar umhergehen, sondern im Jahr 2018 durch die Roma­siedlung Son Banya - jenem Nachfolger der Lagerstätte in El Molinar, in den die Romafamilien 1969 gebracht wurden, und der ebenfalls abgerissen werden soll. Verschiedene Berichte von damals zusammengefasst:

„Rund 600 Leute leben unter unmenschlichen Bedingungen", beschreibt José Enríquez de Navarra in einem Interview Anfang 1966 die Lage in El Molinar. Er ist einer der Gründer der „Vereinigung zur Integration der Zigeuner von Mallorca" (Ingima). Wie seine Mitstreiter hat er seit Jahren Kontakt zu den Roma, hilft ihnen bei gesundheitlicher Versorgung, bei der Beschaffung von Altkleidern und bei Alltagsproblemen. „Wir wollen der Rasse der Zigeuner bei der Integration helfen", so Enríquez de Navarra. Dafür wolle man ein geeignetes Gelände finden, außerhalb der Lagerstätte von Molinar. Wegen der fatalen Lebensbedingungen. Und ja, natürlich auch, weil die Arbeiten an der neuen Autobahn von Palmas Zentrum zum Flughafen voranschreiten - und die autopista direkt durchs Lager führen soll. Die Elendssiedlung muss weg.

"Trotzdem die beste Zeit meines Lebens"

„Während die Männer Lumpen oder Eisen sammeln, betteln die Frauen mit den Kindern. Sie haben Hunger", schreibt Victòria Follana in ihrem Buch „Son Banya - real und ohne Mythen" in der Einführung über das Elends-Lager. „Zur Schule gehen nur wenige Kinder. Und die, die gehen, werden diskriminiert. 'Das sind Zigeuner, die sind voller Flöhe', heißt es." Obwohl die Roma Maria Amaya in diesem Elend in einer Papphütte lebte, berichtet sie in dem 2009 erschienenen Buch: „Es war trotzdem die beste Zeit meines Lebens. (...) Damals wurden wir gitanos noch nicht mit dem Mist wie jetzt in Son Banya in Verbindung gebracht." Ein Mal, erinnert sie sich, seien Sicherheitskräfte gekommen und hätten gesagt, sie müssten Molinar verlassen. „Nur, wenn ihr uns im Gegenzug Häuser zum Leben gebt", hätten die Männer des Lagers erwidert. Als am nächsten Tag die Bagger anrückten, legten sich die Bewohner schützend vor ihre Häuser und verhinderten den Abriss kurzfristig. Doch die Tage des Lagers waren fortan gezählt.

Mai 1968: „Es soll kein Getto werden", betont Pater José Sabater immer wieder. Mehrmals schon hat sich der Geistliche des ­Marienkonvents in Palma, der Ingima leitet, in Leserbriefen an das „Diario de Mallorca" gewandt, stets mit menschlichen Botschaften zur Unterstützung der gitanos aufgerufen. Das neue Dorf, davon ist er überzeugt, werde alles besser machen. Ein Gelände ist gefunden: Son Riera, ein Feld nahe der alten Militärkaserne Son Banya, das dem Marien-Orden gehört. Drei Kilometer außerhalb der Stadt, abgeschieden.

Zigeuner in der Stadt verteilen ist "nicht umsetzbar"

„Die Zigeuner auf Wohnungen verschiedener Mehrfamilienhäuser in der Stadt zu verteilen, wäre wunderbar. Aber dieser 'einfache Plan' ist nicht umsetzbar", schreibt Sabater. Weil die gitanos nicht darauf vorbereitet seien, in engen Wohnungen und abgegrenzt von ihren Verwandten zu leben. Weil die Palmesaner ihrerseits ebenso wenig in der Lage seien, die Zigeuner und ihre ausschweifende Lebensweise in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft willkommen zu heißen.

Und weil keine Immobilienagentur ihre Wohnungen an die gitanos vermieten wolle. „Während sich die Mentalität auf allen Seiten ändert, werden wir in Son Riera eine realistische Lösung schaffen, kein Getto, sondern ein Dorf für die Übergangszeit." Mit schlichten, aber würdigen Häuschen, mit einem Kindergarten, einer Schule für die Kinder und die Erwachsenen, einem Bürgerbüro mit integrierter Stellenbörse. „Ein solches Umfeld fernab von dem Elend, in dem sie bisher leben, wird die Zigeuner erziehen, von den Kindern angefangen." Etwa zehn Jahre, so Sabater, dann werde das provisorische neue Zigeunerdorf nicht mehr notwendig sein, weil seine Bewohner Arbeit gefunden und sich selbst Wohnungen in der Stadt gekauft oder gemietet haben werden.

Umsiedlung ab 1969

5. August 1969: „Die 124 provisorischen Unterkünfte wurden gestern an die Zigeunerfamilien übergeben", titelt das „Diario de Mallorca". Jahrelang hatte die Zeitung immer wieder Meldungen über Spendengalas, Versteigerungen, Kollekten und Kunstausstellungen für Ingima und ihr „Son Riera"-Projekt gebracht, das die meisten nur noch „Son Banya" nennen. Jetzt ist das „Poblado" durch Unterstützung der Caritas und des Rathauses fertig. Zwei Schlafzimmer, ein Wohn-Ess-Bereich, eine Küche und ein kleiner Hinterhof, auf dem Geflügel gehalten werden oder Gemüse angebaut werden kann, macht die einstöckigen Gebäude aus. Wenig später beginnt die Umsiedlung.

„Das wenige Gepäck, das die Roma hatten, luden sie auf ihren Eselskarren und machten sich auf in ihr neues Zuhause", schreibt Victòria Follana in ihrem Buch. Sie hätten bisher wenige Stadtviertel gekannt. Nur die, in denen sie um Essen baten. „Als sie in Son Banya ankamen, strahlten sie vor Freude beim Anblick der Häuschen, die im Vergleich zu ihren Hütten in El Molinar Luxushäuser waren."

In der Presse bemüht man sich in den kommenden Monaten zunächst um eine positive Darstellung. „Die Zigeuner sind eine andere Rasse, aber sehr bereichernd, auch wenn ihre äußerliche Armut das verschleiert", heißt es in einem Artikel im Oktober 1970. Doch auch erste Probleme werden deutlich. „Es geht das Gerücht um, dass einige Bewohner das Projekt ausnutzen." Den symbolischen Mietpreis von 100 Peseten im Monat (etwa 50 Cent) nicht zahlten, sich nicht darum bemühten, Arbeit zu finden, während andere tatsächlich versuchten, einen Neuanfang im „Poblado" zu starten. Schuld sei aber auch die Verwaltung. „Der Papierkram, mit dem wir uns herumschlagen müssen, macht es uns unmöglich, den Bewohnern so viel Zeit zu widmen, wie es nötig wäre, um ihr Vertrauen zu gewinnen", klagt eine Sozialarbeiterin von Ingima. Neben ihr arbeiten eine Krankenpflegerin, ein Verwalter und ein Sicherheitsbeauftragter im neuen Dorf.

Die Quote der Analphabeten sinkt

12. Januar 1972: „Probleme im Zigeuner-Dorf", ist in großen Lettern auf der Titelseite des „Diario de Mallorca" zu lesen, im Innenteil findet sich eine zweiseitige Reportage. Ein Redakteur besucht die kleine Schule, die ein halbes Jahr zuvor - ein Jahr später als geplant - direkt vor der Siedlung errichtet worden ist und trifft auf den für Son Banya zuständigen Pfarrer Ramón Serra. Immer mehr Familien würden ihre Kinder in der Schule anmelden, die Quote der Analphabeten - zu Beginn der Umsiedlung bei 90 Prozent - sinke. „Aber es fehlt uns hier an allem. An Schulbüchern, an Personal und im Winter ist es bitterkalt im Gebäude", gibt eine der fünf Lehrerinnen zu bedenken.

Und manche Kinder fehlten oft, weil sie sich um ihre kleinen Geschwister kümmern müssen - den versprochenen Kindergarten gibt es noch nicht. Oft falle der Strom aus. Schuld seien auch die unklaren Zuständigkeitsbereiche. „Letztens gab es einen Rohrbruch. Aber wer kommt nun dafür auf? Die Landesregierung? Die Stadt? Ingima?" Immerhin hätten freiwillige Helfer mittlerweile ein Fußballteam für die Jugendlichen ins Leben gerufen. Angemeldet sei es nicht - man habe kein Geld für Trikots. Ein paar Mal habe man dennoch außerhalb gespielt. „Aber wäre es nicht toll, wenn auch mal Mannschaften von draußen mit ihren Angehörigen nach Son Banya kommen werden?", fragt Pastor Ramón Serra. Allein: Das Dorf hat keinen Fußballplatz.

Bewohner ohne Stimmrecht

Mai 1974. „Son Banya, das Zigeunerdorf, in dem es viele Probleme gibt, hat jetzt ein Patronat", kann man in einem kleinen Artikel im „Diario de Mallorca" lesen. Und: „Das Patronat übernimmt die Verwaltung der Siedlung und soll für eine gewisse Kontrolle sorgen, damit die Bewohner das Ziel erreichen, mit dem das Dorf geschaffen wurde." Sprich: Integration. Stimmrecht hätten in dem kleinen Rat nur einige Mitglieder der Caritas und von Ingima sowie verschiedener öffentlicher Behörden. Die Bewohner selbst dagegen nicht. „Zwei Gesandte von ihnen werden aber bei den Sitzungen dabei sein." Vielleicht könnte man es so endlich schaffen, dass alle Bewohner sich ins Stadtregister eintragen lassen. Ständig kämen in letzter Zeit Roma vom Festland, um die wenigen frei gewordenen Häuser im „Poblado" zu besetzen. Keiner wisse, wer und wie viele Menschen in Son Banya wohnen - geschweige denn, wie man sie in das Leben „draußen" integrieren kann.

Kommentar: Integration funktioniert nicht durch Räumungsbeschlüsse

23. Mai 1976: „Es ist traurig, aber wahr. Das Einzige, das für die Roma zählt, ist ihre Freiheit, ihre Abgrenzung und vor allem ihre Familie", schreibt die überregionale Tageszeitung „El País". Das Dorf platze aus allen Nähten, denn hier wolle niemand wegziehen, um sich zu inte­grieren. Stattdessen gründeten junge Erwachsene neue Familien und blieben. „Sechs Jahre nach der Gründung von Son Banya ist das Experiment gescheitert", so das Fazit des Artikels. Und dann kamen erst die Drogen...

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