Mallorca ist auch am Tag zwei nach dem großen Unwetter eine Insel mit zwei Gesichtern. Während große Teile der Insel gar nichts von den Wassermassen mitbekommen haben, herrscht in anderen Orten Katastrophenstimmung. Und in einigen beides zugleich: Urlauber sonnen sich neben übermüdeten Rettungskräften, und während einige Orte von Helfern überrannt werden, fühlen sich die Betroffenen in anderen Dörfern alleingelassen. MZ-Tour am Donnerstag (11.10.) durch das gesamte Katastrophengebiet.

Sant Llorenç

Keine Frage: Der Ort, in dem die Wassermassen am meisten Schaden angerichtet haben, ist die 8.000-Einwohner-Gemeinde im Inselinneren. Auch am Donnerstagmittag (11.10.) spielen sich hier Szenarien wie in einem Kriegsfilm ab. Das Basislager der Einsatzkräfte am Ortseingang ist im Vergleich zum Vortag noch einmal gewachsen. Neben dem Zivilschutz und der Rettungszentrale der Balearen-Regierung haben hier mittlerweile auch das Militär, Rettungssanitäter und die Feuerwehr Zelte aufgeschlagen. Fernsehsender parken ihre Übertragungswagen mit den riesigen Antennen direkt daneben. Es ist Mittagszeit, und die Sonne strahlt warm.

Auf dem Fußweg ins Dorf - für Privatfahrzeuge ist die Zufahrt noch immer gesperrt - kommen der MZ-Reporterin scharenweise schlammbedeckte Menschen entgegen, die bereits stundenlang geackert haben. Teils mit Spaten und Besen,die der Zivilschutz verteilt hat. Es ist auffällig, wie viele Zivilisten darunter sind. Eine Gruppe sticht mit ihren grellgrünen T-Shirts hervor: junge Menschen, gerade volljährig. "Das haben sie alles selbst initiiert", sagt Xisco Olivares, der hinter der Gruppe herläuft. Er ist Lehrer an der Berufsschule in Felanitx, die Jugendlichen einige seiner Ausbildungsschüler. "Statt normal Unterricht zu machen, haben die Schüler darauf bestanden, hierhin zu fahren und zu helfen", erzählt Olivares. Seit den frühen Morgenstunden hätten die 26 Schüler dabei geholfen, Schlamm aus Wohnhäusern zu entfernen. "Die Koordination durch das Rathaus war super, wir wurden da eingeteilt, wo es am nötigsten war", so der Lehrer.

Auch im Elternhaus von Miguel Oliver mitten in Sant Llorenç sind Zivilisten am Werk, tragen die letzten verdreckten Möbel aus dem Erdgeschoss oder spritzen mit Schläuchen den Außenbereich ab. "Wir mussten alle Möbel wegschmeißen, jedes Kleidungsstück, alles ist dahin", so der erschöpft wirkende Hausbesitzer. Er gewährt Einblicke in die Räumlichkeiten. Tatsächlich ist schon wieder der weiße Fliesenboden zu erkennen, auch die gröbsten Schlammspuren an den Wänden sind verschwunden. "Hier sind 15 Männer gekommen, die ich gar nicht kannte, Anwohner aus anderen Gemeinden, und haben einfach mit angepackt", sagt Oliver.

Auch sein Freund Joan Morell steht ihm zur Seite. "Ich komme aus Llucmajor, bei uns war gar nichts, also habe ich mir zwei Tage freigenommen, um Miguel zu helfen", erzählt der kräftige Mann und deutet auf die Hauptstraße, die noch immer mit Schlamm bedeckt ist, und auf der die Haufen kaputter Möbel nach und nach von Baggern weggeschafft werden. "Es ist schon erstaunlich, wie viele Menschen gekommen sind, um zu helfen, die Solidarität ist überwältigend, und ich habe das Gefühl, dass die Zivilisten sogar mehr tun als die offiziellen Rettungskräfte. Zumindest ist es das, was ich sehe", so Oliver. Er habe noch immer die Bilder im Kopf von der Nacht, als die Flut kam. Im ersten Stock des Hauses habe die Familie ausgeharrt, er sei von Dach zu Dach gelaufen, um zu schauen, ob er helfen könne. Er konnte. "Mit anderen Nachbarn haben wir ein ausländisches Pärchen aus einem Auto gerettet", sagt er. Noch immer sitze der Schock tief. "Aber die Hilfsbereitschaft, die uns seitdem entgegenschlägt, ist unbeschreiblich."

Canyamel

In dem kleinen Küstenort können die Betroffenen davon nur träumen. Auch hier fließt ein "torrent" (Sturzbach) ins Meer. Zwar nicht quer durchs Dorf wie in Sant Llorenç, wohl aber an einer Straße mit Wohnhäusern entlang. José Antonio Gutiérrez gehört eines davon. Hier kann von Fortschritt am Donnerstagmorgen noch keine Rede sein. In allen Zimmern steht der braune Schlick zentimeterdick auf dem Boden. Auch die Möbel sind größteneils noch im Haus. Es ist klar: Alles ist hin. Die Bilderbücher im Kinderzimmer, das weiße Sofa im Wohnzimmer, der Fernseher, die Küchenzeile. "Wir haben noch ein anderes Haus in Bunyola und waren in der Nacht der Flut zum Glück nicht hier in Canyamel", sagt Gutiérrez. Auch jetzt, am Tag zwei nach dem Unwetter, habe niemand von öffentlicher Seite danach gefragt, ob er Hilfe gebrauchen könnte. "Es ist, als würde Canyamel nicht existieren, alle berichten nur über Sant Llorenç, und wir werden einfach vergessen."

"Selbst unser Rathaus in Capdepera kümmert sich nicht", sagt er. Nur auf der Straße sind Gemeindemitarbeiter dabei, den Asphalt zu säubern. Gutiérrez und seine Nachbarn dagegen müssen alleine mit dem Chaos zurecht kommen. "Klar, in den anderen Orten war es schlimmer. Aber so gar keine Unterstützung zu bekommen, ist bitter", so der Familienvater. Eine Nachbarin nickt. "Mein Auto ist auch in den Fluten davon geschwommen, und ein Bekannter hat sogar zwei neue Autos verloren. Aber das scheint nicht zu interessieren." Im Rathaus hält man sich bedeckt. Die Ortspolizei habe angeboten, in den Nachbargemeinden Son Servera und Artà mitzuhelfen. Die Suche nach den Vermissten gehe vor.

Wenige Meter von Gutiérrez' Haus entfernt schaut Stephan Eckes in die schlammigen Tiefen des Sturzbachs. Der deutsche Urlauber war am Dienstagabend auf der Insel angekommen und ist im Hotel Castel Royal gleich um die Ecke untergebracht. "Schon auf der Hinfahrt ging es mit dem Bus durch Regenmassen, wir sind aber gut im Hotel angekommen." Allein: Auch das Wasser schaffte es bis dorthin. Das ist auch am Donnerstag deutlich zu erkennen, der weitläufige Eingangsbereich sieht aus wie ein Schlachtfeld. "Die Flut kam gegen 23 Uhr und hat einfach die Tür dort aufgedrückt", berichtet Hoteldirektor Yannik Erhart.

Zum Glück konnten sich alle Gäste schnell auf ihre Zimmer flüchten, und Ergeschoss-Gästezimmer gibt es nicht. "Wir hatten 14 Stunden Stromausfall, die Aufzüge funktionieren bis heute nicht - aber klar, es geht uns besser als den Menschen in anderen Gemeinden", sagt er. Im Außenbereich neben dem Pool haben seine Mitarbeiter verdreckte Möbel aus der Lobby gestapelt. Daneben liegen einige Hotelgäste schon wieder in der Sonne. "Die meisten haben Verständnis dafür, dass wir hier improvisieren müssen", so Erhart. Obwohl die ein oder andere Beschwerde über fehlende Eier am Frühstücksbuffet auch ihn erreicht habe. "Alle Gäste, die nach Dienstag angekommen sind, versuchen wir auf andere Hotels des Konzerns auf der Insel zu verteilen", berichtet er.

Es ist erstaunlich, doch schon zwei Straßen weiter ist die heile Urlauberwelt intakt. Nichts deutet darauf hin, dass ganz in der Nähe Schäden in Millionenhöhe entstanden sind. Die Verkäuferin eines Souvenirshops mit bunten Luftmatratzen im Eingangsbereich zuckt die Schultern. "Was sollen wir denn machen? Die Touristen wollen doch ihren Urlaub genießen. Und bei uns ist ja nichts passiert."

S'Illot

Auch im Küstenort S'Illot ist das Bild gespalten. Urlauber sitzen an Café-Tischen an der Promenade und beobachten beim Café con Leche die Helikopter der Guardia Civil, die über der Bucht kreisen. Hier mündet der Sturzbach ins Meer, der mehrere Kilometer oberhalb in Sant Llorenç zur Todesfalle für die Anwohner wurde. "Zahlreiche Autowracks sind bis hierhin gespült worden", erzählt Francisco Martínez, Kommandant der Guardia Civil. Bis gerade eben hat er mit einer Spezialeinheit von Tauchern der Guardia Civil auf einem Schlauchboot nach Resten der Pkw gesucht. "Aber das Meer ist viel zu trüb, da ist momentan nichts zu machen", sagt er.

Während die Aufräumarbeiten rund um den Wasserlauf weit fortgeschritten sind und auch aus den Kellern betroffener Hotels die Abpumpaktionen des Schlammwassers in den letzten Zügen liegen, bietet der Strand des Urlaubsorts einen traurigen Anblick. Der einst helle Sand ist übersät mit Schilfresten, sogar eine Stoßstange liegt im Sand. An vielen Stellen ist der Strand gänzlich verschwunden. Keine Frage: Auch wenn die Absperrbänder der Polizei nicht wären - baden kann man hier nicht. "Sehr viele Gäste haben sich beschwert, weil sie Strandurlaub gebucht haben, und jetzt kein Strand da ist", berichtet eine junge Frau. Sie arbeitet für einen deutschen Reiseveranstalter, der in der Zeitung nicht genannt werden soll, und macht Fotos. An Ruhe sei für sie seit der Katastrophe nicht zu denken gewesen. "Es war Wahnsinn gestern, wir mussten checken, ob alle Gäste da sind, Flughafentransfers der abreisenden Gäste vorverlegen und auch traumatisierte Urlauber beruhigen, die mit angesehen haben, wie Autos am Hotel vorbeigeschwommen sind", erzählt sie. Noch immer erreichten sie extrem viele Anrufe. "Auch heute ist für mich noch keine Ruhe eingekehrt. Aber wir tun unser Möglichstes, dass für die Urlauber schon jetzt wieder alles wie gewohnt laufen kann."

Son Carrió

An Routine ist im kleinen Ort Son Carrió nicht zu denken. Das Dorf im Inselinneren hat es mit voller Wucht erwischt. Es liegt direkt zwischen S'Illot und Sant Llorenç - und vor allem: direkt am "torrent". Während auf den ersten Kilometern von S'Illot in Richtung Son Carrió die Fincas ausssehen, als sei nie etwas geschehen, bestimmen die Folgen der Flut nahe der Ortschaft das Landschaftsbild. Umgestürzte Bäume, überschwemmte Felder, und auch hier: an jeder Ecke Autowracks. In Son Carrió selbst ist so gut wie kein Anwohner auf der Straße, dafür aber eine Vielzahl an Einsatzkräften. Die Dorfmitte ist komplett abgesperrt, hier hat nicht einmal die Presse ein Durchkommen.

Heinz und Elvira Wedeling haben aber auch am Ortsrand genug zu gucken. Die beiden Deutschen sind mit Fahrrädern ins Katastrophengebiet gefahren. "Wir sind in Son Servera einquartiert und wollten einfach mal schauen, wie schlimm es hier ist", sagt sie. "Das ist schon schockierend." Die Einsatzkräfte kommen gar nicht dazu, die unzähligen Autowracks, die in der Landschaft verteilt sind, davonzuschaffen. Auch um die umgestürzten Laternen kümmert sich momentan niemand. Man muss Prioritäten setzen. "Die sind alle im Ortskern, um vollgelaufene Häuser leerzupumpen", so ein Ortspolizist, der aufpasst, dass kein Fahrzeug passieren kann.

Porto Cristo

In der Hafengemeinde von Manacor könnte die Situation nicht gegensätzlicher sein. Am Strand von Porto Cristo fläzen sich die Badegäste, und selbst die Flaniermeile rund um den Sturzbach im Ort scheint unversehrt. Dabei hatten spektakuläre Videos von Wassermassen und überfluteten Restaurantterrassen nach der Flutnacht im Internet und Fernsehen die Runde gemacht. "Es war auch unglaublich heftig, aber wir haben bei alledem noch einmal Glück gehabt", sagt Fernando Gómez. Er arbeitet im Restaurant Porto Bello, in dem von braunem Schlick keine Spur ist. "Wir haben die Katastrophe aus dem ersten Stock gefilmt und gesehen, wie alle unsere Tische und Stühle vom Außenbereich geflutet wurden", berichtet er. Am Mittwochmorgen um 8 Uhr habe das ganze Restaurant-Team mitangepackt und die Sitzmöbel und Tische aus dem Schlamm gezogen und abgespritzt. "Und um 12 Uhr war alles blitzblank, und wir haben schon wieder den Betrieb geöffnet." Ins Innere des Restaurants sei nur sehr wenig Wasser gedrungen. "Ansonsten hätten das alles ganz anders ausgesehen."

Auch der Deutsche Matthias Fellwack, der direkt nebenan den Bootsverleih "Roda Boats" führt, macht am Donnerstag "business as usual". "Drei unserer Boote konnten wir heil aus den Fluten ziehen, eines ist gesunken. Aber den Schaden übernimmt zum Glück die Versicherung", sagt er. Trotzdem schaudert es ihn, wenn er an die Wassermassen zurück denkt. "Dass es so schlimm wird, hätte ich nicht erwartet."

Artà

Wie punktuell die Niederschläge und vor allem ihre Auswirkungen sind, zeigt sich auch bei dem Weg über die Landstraßen nach Artà. Wieder ist kilometerweit kein Anzeichen der Katstrophe zu erkennen. Erst kurz vor dem Ortseingang sind grelle Markierungen zu sehen: Die Brücke über den "torrent", der hier verläuft, ist zwar für den Verkehr weiterhin geöffnet, doch ganze Stücke des Seitenstreifens liegen zusammen mit Autowracks und einem Ortsschild auf dem angrenzenden Feld. Die Straße, die in Richtung Küstenort Colònia de Sant Pere führt, ist komplett verriegelt. "Wer nach Colònia will, muss über Manacor hinfahren", gibt ein Ortspolizist Auskunft.

Im Ortskern von Artà weist allein die große Spanienflagge am Quartier der Guarida Civil darauf hin, was sich im weitläufigen Gemeindegebiet ereignet hat - sie hängt auf Halbmast. Unter den Todesopfern ist auch Rafel Gili, einst Bürgermeister der Inselgemeinde. "Klar kannten wir den, er war ein feiner Kerl", sagt ein Mallorquiner, der in einer kleinen Bar an der Hauptstraße mit Freunden sitzt und von einem Tapasteller snackt. "Ihn hat es wohl in seiner Garage erwischt", fügt ein anderer Mann am Tisch hinzu. Auch von der Suchaktion nach einem deutschen Ehepaar zwischen Artà und Canyamel habe man gehört. "Deshalb kreisten hier auch ständig Hubschrauber." Natürlich sei man betroffen über das, was in so unmittelbarer Entfernung geschehe. "Aber wir sind auch dankbar, dass wir im Ortskern größtenteils verschont geblieben sind. Und was sollen wir machen? Das Leben geht ja weiter."

Aktueller Stand: Zahl der Todesopfer steigt auf zwölf