„Es passiert überall, auch hier bei uns im Dorf", sagt eine dunkelhaarige Mittdreißigerin durchs Megafon und fügt kämpferisch hinzu: „Das muss aufhören!" Zustimmendes Nicken der Demonstranten, ein paar Frauen klatschen. Es ist Montagabend (8.7.) und an Cala Ratjadas Meerespromenade im Nordoste von Mallorca haben sich knapp 200 Menschen eingefunden. Überwiegend sind es Frauen, von der Schülerin bis zur Rentnerin sind alle Altersklassen vertreten. Die vom Movimiento Feminista organisierte Zusammenkunft - zeitgleich gibt es auch Kundgebungen in Manacor, Son Servera und Palma - soll ein Zeichen setzen gegen sexuelle Gewalt an Frauen. Es ist kein Zufall, dass die Beteiligung im Küstenort so hoch ist: Weniger als einen Kilometer vom Versammlungsplatz entfernt, im Drei-Sterne-Hotel Club Cala Ratjada, sollen zwei deutsche Urlauber am Mittwochabend (3.7.) eine ebenfalls deutsche 18-jährige Touristin vergewaltigt haben. Es ist ein Fall, der sowohl in Spanien als auch in Deutschland für mediale Schlagzeilen sorgt - und für Diskussionen, die teils in abstruse Richtungen abgleiten.Was ist passiert?

Eine Polizistin vom Kommissariat Köln war dabei, als die 18-Jährige völlig aufgelöst Anzeige erstattete. Die deutsche Beamtin steht in diesem Sommer den Kollegen der Guardia Civil in Cala Ratjada zur Seite. Nicht, um den Deutschen die Leviten zu lesen, wie sie selbst sagt, sondern um Opfern in ihrer Muttersprache beizustehen. „Ich war bei allen Vernehmungen dabei und habe bis tief in die Nacht gearbeitet. Fälle wie dieser zeigen, wie sinnvoll unsere Arbeit hier ist", sagt sie. Den Ermittlern zufolge soll die 18-Jährige eine Gruppe 19- bis 23-jähriger Landsmänner außerhalb des Hotels kennengelernt haben und freiwillig mit den jungen Männern aufs Zimmer gegangen sein. Dort hätten die Urlauber sie zum Sex gezwungen. Nach dem Akt ließen sie das Mädchen ziehen, es ging direkt zur Guardia Civil. Auch dank der Unterstützung der deutschen Polizistin konnten schnell Maßnahmen eingeleitet werden: Die junge Urlauberin wurde im Son-Espases-Hospital gynäkologisch untersucht, Experten bestätigten anhand ihrer ­Verletzungen, dass ihr sexuelle Gewalt angetan wurde. Wenige Stunden später nahm die Guardia Civil die mutmaßlichen Täter am Flughafen in Palma fest, wo sie ihren Rückflug antreten wollten. Zwei Hauptverdächtige sitzen seitdem in U-Haft. Sie sagen, der Sex sei einvernehmlich gewesen.

Mehrere Täter

Bereits am nächsten Tag sorgt das Thema für Schlagzeilen in deutschen und spanischen Medien. „Dabei wird in Spanien durchschnittlich alle vier Stunden eine Vergewaltigung angezeigt", sagt Sonia Vivas, Dezernentin für Frauenthemen im Stadtrat von Palma und Mitkoordinatorin der Kampagne „No i Punt" (Nein und Punkt) gegen sexuelle Belästigung. Eine Studie des spanischen Innenministeriums aus dem Jahr 2018 zeigt, dass vor allem auf den Balearen nicht nur die Zahl der Anzeigen wegen Vergewaltigung von 2016 auf 2017 um 46 Prozent gestiegen ist, sondern die 73 aufgenommenen Fälle im Verhältnis zur Bevölkerungsdichte mehr sind als in fast allen anderen spanischen Regionen. Sonia Vivas sieht hier einen klaren Zusammenhang zum Tourismus. „Und die Dunkelziffer ist natürlich noch viel höher."

Dass der Fall Cala Ratjada in Spanien trotzdem für einen Aufschrei sorgte, dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass es sich mutmaßlich um eine Gruppenvergewaltigung handelt. „La manada alemana" titelten die spanischen Inselmedien - und schafften so Bezug zu dem Fall einer Gruppenvergewaltigung in Pamplona im Sommer 2016, die mehrere Gerichte zunächst nur als sexuellen Missbrauch werteten, und Zehntausende empörter Frauen auf die Straßen trieb (MZ berichtete). „Fälle wie dieser sensibilisieren das Land", so Sonia Vivas.

Auch in Deutschland scheint das Thema Gruppenvergewaltigung aktuell einen Nerv zu treffen - nicht zuletzt, weil kurz nach dem Mallorca-Fall am Freitag (5.7.) mehrere Kinder und Jugendliche eine 18-Jährige in Mühlheim an der Ruhr (NRW) vergewaltigt haben sollen und die „Bild"-Zeitung damit die Seite 1 gestaltete. Mitten im Sommerloch ist eine Debatte über Sexualstraftaten losgetreten. Die vorherrschenden Fragen in den Medien: Ist ein Anstieg zu verzeichnen? Und was bewegt die oft jungen Täter zu solchen Gruppenakten?

„Bei Gruppenvergewaltigungen geht es neben sexueller Befriedigung vor allem um Macht", sagt Sonia Vivas. Das bestätigen auch kriminologische Studien, auf die der „Spiegel" Bezug nimmt. „Die Täter betrachten das Opfer in diesen Fällen als ein von der Gruppe ausgeschlossenes Objekt, dem sie keine Gefühle entgegenbringen. Dadurch wird ihre eigene Hemmschwelle zur Tatausführung herabgesetzt." Einer Studie der Balearen-Universität zufolge fördert auch die Internetpornografie die kollektiven Vergewaltigungen. Trotzdem: Statistiken des Bundeskriminalamts zufolge ging die Anzahl erfasster Gruppenvergewaltigungen in Deutschland zwischen 2016 und 2017 zurück.Anlass für rechte Hetze

Und noch eine andere Diskussion startete mit dem Vorfall in Cala Ratjada - allerdings vorherrschend in den sozialen Medien. Die politische Rechte nutzte einmal mehr ein Aufmerksamkeit erregendes Thema, um gegen Ausländer zu hetzen. In Dutzenden Kommentaren und E-Mails warf man auch der MZ-Redaktion vor, absichtlich „zu verschweigen", dass es sich bei den mutmaßlichen Tätern von Cala Ratjada nicht um „Bio-Deutsche" handelte, sondern vielmehr um „Passdeutsche" oder Deutschtürken. Aussehen und Vornamen der mutmaßlichen Täter seien „Beweis genug", so die Meinung vieler Kommentatoren. Unabhängig davon, ob das überhaupt etwas zur ­Sache tut, wollte keine öffentliche Stelle den Migrationshintergrund bestätigen. Neben dem rechten Youtuber Oliver Flesch, der mit seinem populistischen Kanal von Cala Ratjada aus viele Tausend Internetnutzer in Deutschland erreicht, griffen auch einschlägige Websites wie die AfD-nahe „Die Freie Welt" die ­Vergewaltigung im Urlaubsort auf, um Fremdenfeindlichkeit zu schüren.

„So etwas kann ich einfach nicht verstehen", sagt Maria Amengual . Die 28-Jährige ist eine der Demonstrantinnen, die am Montag gegen sexuelle Gewalt auf die Straße gingen. Sie hat ein Schild in der Hand: „Schwester, wir glauben dir", steht darauf. „Hier geht es doch um ein ganz anderes Problem: ­Um das Leid ­eines jungen Mädchens. Was für eine Rolle spielt es denn da bitte, welche Herkunft die Täter haben?"

Kommentar: In die Falle der Hetzer getappt