Ist das Königliche Dekret 463/2020, mit dem am 14. März der spanienweite Alarmzustand ausgerufen wurde, verfassungswidrig? Diese Frage stellen sich derzeit immer mehr Juristen im ganzen Land. Die spanische Verfassung erklärt diesbezüglich in ihrem Artikel 55: Die Grundrechte der Bürger dürfen nur innerhalb eines Ausnahmezustands (estado de excepción) oder eines Belagerungszustands (estado de sitio) ausgesetzt werden. Zu diesen Grundrechten zählen neben der Bewegungsfreiheit unter anderem auch das Recht auf Versammlungsfreiheit sowie das Demonstrations- und Streikrecht.

Im rechtlichen Rahmen eines Alarmzustands können genannte Grundrechte jedoch nicht ausgesetzt werden. „Die Regierung hätte also einen Ausnahmezustand und nicht einen Alarmzustand ausrufen müssen, um die Bewegungsfreiheit der Bürger in ­diesem Maß einzuschränken", sagt Jaime ­Campaner, Anwalt und Leiter der Kanzlei ­Campaner Law in Palma de Mallorca.

Verschleierter Hausarrest

Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden Zuständen bestehe darin, dass für die Ausrufung eines Ausnahmezustands die

Regierung von Anfang an auf die Zustimmung des Parlaments angewiesen ist - bei dem gegenwärtigen Alarmzustand ist dies hingegen nicht der Fall. Für Campaner ist der jetzige Zustand denn auch mit einem verschleierten Hausarrest zu vergleichen. „Und wer sich beschwert, wird als schlechter Bürger abgestempelt", sagt er. Es sei wichtig, dass man auf seine Rechte bestehe, sonst liefe man Gefahr, dass die Regierung in Zukunft zu weiteren in die Freiheitsrechte einschneidenden Maßnahmen greife, so der Jurist.

Jaime Campaner empfiehlt daher denjenigen, die in den vergangenen Wochen eine ­Strafe wegen Verstoß gegen die Ausgangs­sperre erhalten haben, rechtlich vorzugehen. „Damit rufe ich nicht zu einer Missachtung der Ausgangssperre auf, aber Verordnungen und Sanktionen müssen auf einer verfassungs­konformen Rechtsgrundlage beruhen", sagt ­Campaner.

Mittlerweile sind diesbezügliche Verfassungsbeschwerden beim spanischen Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional) in Madrid eingegangen. „Wenn das Gericht die Maßnahmen des Alarmzustands für verfassungswidrig erklärt, müssen demnach alle bereits getätigten Strafzahlungen an die Bürger zurückerstattet werden", sagt der Jurist. Bis es zu einer solchen Verkündung käme, könnten jedoch noch Wochen oder sogar Monate vergehen, da die spanische Justiz generell für ihre langen Bearbeitungszeiten bekannt ist.

Nichts ist ganz sicher

Aber nicht nur die Strafen an sich stehen dieser Tage in der Kritik, sondern auch das unterschiedliche Maß, mit dem diese verhängt ­werden. „Es herrscht eine allgemeine Rechtsunsicherheit, weil das Dekret des Alarmzustands zahlreiche Sachverhalte einfach nicht vorsieht", sagt Campaner. Dies führe dazu, dass Polizeibeamte die Verordnungen nach ­ihrem eigenen Belieben auslegen und unterschiedlich vorgehen. „Darf man nun sein Brot bei einem Bäcker kaufen, der etwas weiter von unserem Zuhause entfernt ist, weil es einem dort besser schmeckt oder nicht? Die Entscheidung liegt hier bei dem Polizisten, auf den man trifft", sagt er.

Auch Bartolomé Salas, Anwalt und Leiter der Kanzlei Salas & Cerdà Abogados, äußert sich diesbezüglich kritisch. „Für die Polizei gestaltet sich die Auslegung dieser vagen Verordnungen schwierig und die Bürger sehen sich daher oft ungerecht behandelt." Eduardo Luna, Anwalt und Leiter der Kanzlei Luna ­Garau Abogados, beklagt seinerseits, dass ­niemand mehr genau wüsste, was erlaubt sei und was nicht. „Die Rechtsunsicherheit ist riesig, und es wird eine wahre Flut an Berufungsverfahren geben", sagt Luna, der gleichzeitig bezweifelt, dass der Großteil der verhängten Strafzettel bezahlt werden wird.

Gleich ins Gefängnis?

Mindestens ebenso kontrovers sind die Festnahmen und Inhaftierungen aufgrund der Missachtung der Ausgangssperre. „Die Festnahmen ergeben überhaupt keinen Sinn, und die Inhaftierungen sind eine Ungeheuerlichkeit in dieser Situation", sagt Bartolomé Salas. In diesem Sinne stellte das Landgericht der Balearen (Audiencia Provincial) vor wenigen Tagen klar, dass eine Untersuchungshaft unter diesen Umständen nur innerhalb eines Ausnahmezustands, nicht jedoch während eines Alarmzustands verhängt werden darf.

Und Europa?

Wie zahlreiche EU-Bürger fragt auch Jaime Campaner sich dieser Tage, warum die ­einzelnen Mitgliedstaaten teilweise sehr ­unterschiedliche oder sogar gegensätzliche Kriterien bei der Bekämpfung des Corona­virus anwenden. „Wir haben Verträge unterzeichnet und reden immerfort von einem Einheitsraum, aber in dieser Krise fallen wir in die Kleinstaaterei zurück." Ein Land halte Joggen in der Natur für eine Gefahr für die Gesundheit, ein anderes habe kein Problem mit. „Dabei müsste es Richtlinien geben, nach denen alle Mitgliedsstaaten handeln", sagt ­Jaime Campaner.

Die Übersicht zum Weiterlesen: Fragen und Antworten zum Corona-Exit auf Mallorca