Es ist mehr als nur ein Wirtschaftsclub - der 1994 gegründete Cercle d'Economia de Mallorca vereint neben Unternehmern, Steuer­beratern und Volkswirten auch Ingenieure, Anwälte, Ärzte und Akademiker zu Gesprächsrunden. Erklärtes Ziel ist es, als eine Art Denkfabrik Perspektiven für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Insel aufzuzeigen. Derzeitiger Vorsitzender ist José María Vicens, ein Internist.

Herr Vicens, als Arzt und Vorsitzender des Cercle sehen Sie die Pandemie sowohl aus medizinischer als auch aus wirtschaftlicher Perspektive.

Ja, es ist unfassbar, wie rasant dieses kleine Virus die ganze Welt verändert hat. Vor vier Monaten sahen wir komplett andere Gefahren auf uns zukommen. Wir sorgten uns um die Auswirkungen des Klimawandels oder der Migrationen - nun hat die Pandemie jedoch alles Weitere überschattet und paralysiert. Nicht nur die Wirtschaft, das Arbeits- und Sozial­leben ist durch Covid-19 zum Stillstand ­gekommen, sogar Kriege sind unterbrochen worden. Aber gerade weil diese Ausnahme­situation nicht wie die Wirtschaftskrise von 2008 durch Menschenhand entstanden ist, hat sie auch viel weitreichendere Auswirkungen. Die Balearen werden dieses Jahr einen wesentlich höheren Einbruch des Bruttoinlandprodukts verzeichnen als in der vergangenen Krise.

Wegen ihrer Abhängigkeit vom Tourismus.

Ja, und auch wegen ihrer Insellage. Denn unsere geografische Abgeschiedenheit ist Segen und Fluch zugleich. Zum einen hat sie uns sehr dabei geholfen, die rasante Ausbreitung des Virus einzudämmen, und somit stehen wir ­gegenwärtig wesentlich besser da als viele Gebiete des spanischen Festlands. Zum anderen benachteiligt uns diese Abgeschiedenheit nun, weil wir nur Urlauber empfangen können, wenn unsere Schiffs- und Flughäfen ihren regulären Betrieb aufnehmen. Diese Transportvernetzungen wiederherzustellen, ist der Schlüssel, um aus unserer Krise herauszu­finden. Doch unsere Landesregierung ist nicht befugt, eine solche Entscheidung zu treffen.

Also sehen Sie als Mediziner keine große Gefahr darin, dass die Flug- und Schiffsverbindungen wiederhergestellt werden?

An erster Stelle muss berücksichtigt werden, welche Gebiete als relativ sicher gelten. Es gibt Regionen, wie die Balearen, in denen die tägliche Zahl der Neuinfizierungen sehr gering ausfällt. Die Verbindungen zwischen diesen „sicheren Gebieten", die es auch in vielen anderen Ländern gibt, wiederherzustellen, wäre ein erster Schritt. Wir müssen bedenken, dass über 50 Prozent des Bruttoinlandprodukts der Balearen direkt oder indirekt vom Tourismus abhängen. Außerdem konzentrieren sich diese Einnahmen bei uns - anders als auf den ­Kanaren, wo ganzjährig Betrieb ist - auf eine relativ kurze Sommersaison. Daher hat uns das Virus auch zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt getroffen, nämlich direkt zu Saisonbeginn. Die wirtschaftliche Situation Mallorcas wäre eine andere gewesen, wenn sich das Coronavirus erst im Oktober in unserem Land ausgebreitet hätte. Aber da wir fast unsere gesamte Aktivität auf den Tourismus ausrichten, sind wir jetzt in großen Schwierigkeiten. Wie jemand, der all seine Eier in den gleichen Korb legt. Wenn dieser Korb umfällt, sind auf einen Schlag alle Eier futsch.

Was sollte Mallorca in Zukunft anders machen?

Wir sollten zum Beispiel bei unserer Landwirtschaft beginnen, die nur 0,6 Prozent unseres Bruttoinlandprodukts ausmacht - das ist fünfmal weniger als in den meisten anderen Regionen Spaniens, und führt dazu, dass fast alle unsere Lebensmittel von außerhalb kommen. Zahlreiche Landgüter unserer Inseln haben sich in den vergangenen Jahren in Landhotels verwandelt, die sogenannten agroturismos - die jedoch nur wenig „Agrar" und viel „Tourismus" beinhalten.

Aber die Einnahmen aus dem Kartoffelanbau können kaum mit den Einnahmen aus einem Finca-Hotel mithalten. Wer widmet sich da schon freiwillig der Landwirtschaft, wenn er seine Unterkunft viel lukrativer an Urlauber vermieten kann?

Greifen wir hierzu noch einmal auf ein medizinisches Beispiel zurück und stellen uns ­einen Patienten vor, der einen Herzinfarkt ­erlitten hat, vor. Unsere oberste Priorität wird darin bestehen, sein Leben zu retten. Und wenn wir das geschafft haben, werden wir nach den Ursachen des Herzinfarkts suchen - vielleicht ist er Raucher, vielleicht hat einen hohen Blutdruck, den er nicht medikamentös behandelt, vielleicht trinkt er zu viel Alkohol oder ist ­extrem übergewichtig. All dies sind Risikofaktoren, die ausgewertet, überprüft und dementsprechend geändert werden müssen. Mit der gegenwärtigen Krise verhält es sich genauso. Woran liegt es, dass der Patient Mallorca noch stärker von den wirtschaft­lichen Folgen der Pandemie betroffen ist als andere spanische Regionen?

Demnach stehen Sie dem Maßnahmen­-Paket der Balearen-Regierung , das Hotels und Restaurants erlaubt, 15 Prozent ihrer Flächen zu erweitern, eher skeptisch gegenüber. Hierbei geht es ja erneut um Inves­titionen in die Tourismusbranche.

Wir müssen unterscheiden, um welche Umbauten es sich handelt. Hotels können auch in Wohnungen umgewandelt werden. Und wir müssen berücksichtigen, dass uns der Bausektor in der derzeitigen Lage helfen kann, die Wirtschaft anzukurbeln. Kurzfristig kann das wirksam sein. Mittel- und langfristig müssen aber auch andere Wirtschaftszweige gefördert werden. Unsere verarbeitende Industrie - wie die Schuh- und Schmuckherstellung oder das Kunsthandwerk - muss wiederaufgebaut werden.

Wie sehen Sie die Rolle der EU in der gegenwärtigen Krise?

Die europäischen Hilfen und Investitionen werden dringend benötigt, und für Situationen wie die jetzige sind diese Hilfsgelder ja auch gedacht. Wir reden immer von Europa - nun ist es an der Zeit, dass Europa gemeinsam agiert. Wenn nicht jetzt, wann dann? Denn der Tourismus begünstigt ja nicht nur das Land, das ihn empfängt, sondern auch die Urlauber, die ihren Aufenthalt hier genießen.