Die Zahl der Menschen, die über den illegalen Seeweg versuchen, auf die Balearen zu gelangen, steigt weiter an. Allein in den ersten zehn Monaten dieses Jahres haben Sicherheits­kräfte 942 Migranten in 74 Booten ausfindig gemacht - knapp 60 Prozent mehr als im ­gesamten Jahr 2019. Vor allem im Oktober war die Zahl beachtlich: Aktuell (Stand: Freitag, 30.10.) sind seit Anfang des Monats 335 Migranten aufgespürt worden, die mit Booten von Algerien aus erfolgreich die Balearen angesteuert haben. Zuletzt waren in der Nacht auf Freitag (30.10.) vier Boote mit insgesamt 51 Menschen an der Südostküste von Mallorca aufgegriffen worden.

Obwohl die Vertreterin der Zentralregierung auf den Balearen, Aina Calvo, in einem Interview mit MZ-Schwesterzeitung „Diario de Mallorca" beteuert, dass „99,9 Prozent" aller Boote irregulärer Ankömmlinge von den Radaren aufgespürt werden, scheinen die Menschen die Hoffnung auf einen Neuanfang in Europa nicht aufzugeben.

Glück oder Pech

„Viele von ihnen sind jung, unabhängig, voller Träume und kommen aus einem Land, in dem es ihnen sowohl wirtschaftlich als auch politisch nicht möglich ist, sich frei zu entfalten und Fortschritte zu machen", erläutert Dolça Feliu. Sie ist die Leiterin der Abteilung für soziale Inklusion des balearischen Roten Kreuzes. Sobald die Ankunft von Migranten an den Küsten gemeldet wird, sind neben den Einsatzkräften der Seenotrettung und der Polizei auch Mitarbeiter des Roten Kreuzes dabei, um die zumeist aus Algerien stammenden Einwanderer in Empfang zu nehmen.

„Zunächst vergewissern wir uns, dass sie gesundheitlich stabil sind. Das ist, von Erschöpfung abgesehen, meist der Fall", sagt Dolça Feliu. Auch Grundnahrungsmittel bietet das Rote Kreuz den Ankömmlingen an. Zudem wird ein PCR-Test gemacht, der bisher in rund drei Prozent der Testungen positiv ausgefallen sei. „Vor allem aber sind wir dafür da, ihnen zuzuhören. Viele sind sehr aufgeregt, weil sie nicht wissen, wie es mit ihnen weitergeht", sagt Dolça Feliu.

Tatsächlich hängt die Zukunft der zumeist jungen Männer, die nach ihrer Ankunft zunächst 72 Stunden lang in Polizeigewahrsam müssen, vor allem vom Zufall ab. „Wenn sie Pech haben, werden sie nach wenigen Wochen in eines der Auffanglanger auf dem Festland geschickt, von wo aus dann ihre Abschiebung organisiert wird." Dieses Prozedere wird in der Pandemie aber immer wieder außer Kraft gesetzt - sei es, weil die Abschiebung über die Grenze sich wegen Corona verkompliziert oder weil die Auffanglager aufgrund hoher Ansteckungsgefahr teil- oder zeitweise geschlossen werden müssen. „In diesen Fällen haben die Leute Glück", sagt Dolça Feliu. Dann nämlich sei es nicht die Nationalpolizei, die sich der Ankömmlinge annähme, sondern das Rote Kreuz.

„Wir haben auf dem Festland gemeinsam mit anderen Nichtregierungsorganisationen ein Programm für irreguläre Einwanderer, an dem auch Ankömmlinge der Balearen teilnehmen können", berichtet die Rotkreuzmitarbeiterin. In speziellen Herbergen werden die Menschen für bis zu drei Monate untergebracht. Auch Sprachkurse können sie dort besuchen. „Sie dürfen sich frei bewegen, obwohl sie natürlich keine gültige Aufenthaltserlaubnis für Spanien haben." Viele der Teilnehmer blieben nach dem Ende des Programms in Spanien und tauchten unter - oder aber sie zögen weiter in Richtung Mittel- und Nordeuropa. „Die meisten, die an der spanischen Küste ankommen, haben eigentlich die Absicht, in andere Länder weiterzuziehen. Nach Frankreich, Deutschland oder in die Niederlande zum Beispiel. Die Balearen sind für sie nur ein Tor zur Europäischen Union", so Feliu.

Gleichgewicht finden

Warum gerade in diesem Herbst so viele Menschen die gefährliche Überfahrt nach Mallorca und ihren ungewissen Ausgang auf sich nehmen, darüber kann Dolça Feliu genau wie die Vertreterin der Zentralregierung, Aina Calvo, nur mutmaßen. Vermutlich habe sich herumgesprochen, dass zu Corona-Zeiten die Chancen, nicht abgeschoben zu werden, gestiegen sind, sagt Dolça Feliu.

„Es hängt aber auch mit der Instabilität in ihrem Heimatland und den meteorologischen Voraussetzungen auf dem Mittelmeer zusammen, ob viele Menschen die Überfahrt wagen", so Aina Calvo. Die Anzahl der Menschen, die mit Booten auf die Balearen gelangen, sei im Vergleich zur gesamten irregulären Einwanderung lächerlich, sagt die Vertreterin der Zentralregierung und ehemalige Bürgermeisterin Palmas. Sie mahnt, die Menschen, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Europa kommen, nicht zu verurteilen. Gleichzeitig dürfe man die Situation nicht auf die leichte Schulter nehmen. „Es handelt sich um ein internationales soziales Drama. Es ist wichtig, ein Gleichgewicht zu finden zwischen Verantwortungsbewusstsein und Solidarität." Gerade in Zeiten von Corona.