Freitag, 11 Uhr. Von den langen Menschenschlangen, an die man sich vor dem Lokal von Tardor in Palma de Mallorca über die vergangenen anderthalb Jahre gewöhnt hat, ist nichts zu sehen. Dabei läuft die Essensausgabe bei der sozialen Einrichtung bereits eine Stunde. Ein Zeichen dafür, dass sich die Lage in der Krise gebessert hat? Dass die Leute mit der anlaufenden Saison Arbeit gefunden haben und nicht länger auf die Tafel angewiesen sind? Bei Tardor kommen die Ärmsten der Gesellschaft zusammen. Menschen, die nicht genug Geld haben, um sich und ihre Familie zu ernähren. Schuld ist bei vielen die Pandemie.

„Nein", meint Carolina Senders, „von wirklicher Besserung kann keine Rede sein." Die Argentinierin mit österreichischen Eltern koordiniert die Essensausgaben. „Um die Mittagshitze zu umgehen, kommen die Leute so früh wie möglich." Außerdem verteile sich der Andrang, weil die Lebensmittelausgabe mittlerweile dreimal pro Woche stattfindet. Auch Tardor-Chef Toni Bauzà rollt nur mit den Augen bei der Frage, ob sich die soziale Not jetzt, wo wieder Touristen kommen, gelindert hat. „Nur sehr wenig", sagt er. Noch immer erhalten hier täglich zwischen 400 und 450 Personen eine Mahlzeit. 850 Familien holen sich bei der wöchentlichen Essensausgabe Lebensmittel ab. „Wenn viele junge Leute keine Arbeit finden, wie sollen dann die 50- bis 70-Jährigen einen Job bekommen?" Und selbst wenn die Bedürftigen nach der Corona-Flaute nun endlich wieder eine Anstellung ergattern - oft bleibe die missliche Lage bestehen. „Die meisten schulden durch die Krise der halben Welt Geld. Von den Einnahmen bekommen sie also kaum etwas zu sehen", sagt Bauzà. Trotz Jobs kämen viele dann weiter zu Tardor.

Schulden und hohe Mieten

Ähnliches berichtet auch Heimke Mansfeld von der Hilfsorganisation Hope Mallorca. „In den vergangenen Monaten ist die Anzahl unserer Lebensmittelempfänger nur etwa um 30 Prozent gesunken. Noch immer versorgen wir 4.000 Menschen pro Woche mit Essen. Und das, obwohl wir schon Juni haben, da ist die Saison normalerweise in vollem Gange."

Hintergrund: Hope Mallorca: die Not, die Solidarität und die enorme Logistik

Eigentlich hatten die Deutsche und ihre Mitstreiter damit gerechnet, im Sommer einige der Ausgabestellen dichtmachen zu können. Noch habe man die Hoffnung darauf nicht ganz aufgegeben -der Name ist bei Hope Programm -, aber bisher sei man noch weit entfernt davon, die Not zumindest zwischenzeitlich für beendet erklären zu können.

„Natürlich sind wir glücklich, dass der Tourismus wieder anläuft und die Pandemie abflaut. Aber die Auflösung des Alarmzustands hat auch dazu geführt, dass viele Menschen aus ihren Wohnungen rausgeschmissen wurden", so Mansfeld weiter. Die Zwangsräumungen seien mit der Aufhebung des rechtlichen Ausnahmezustands wieder einfacher möglich. Immer wieder erlebe sie bei Hope verzweifelte Familien und weinende Menschen, aus Palma, Alcúdia oder Pollença, die auf die Straße gesetzt werden, weil sie ihre Miete mehrere Monate nicht zahlen konnten. Überhaupt würden die im Vergleich zu vielen anderen spanischen Regionen hohen Mieten im Zusammenspiel mit den in der Krise angehäuften Schulden vielen sprichwörtlich das Genick brechen - selbst wenn sie Kurzarbeitergeld beziehen oder nun wieder einen Job gefunden haben.

Das kann Maria Antònia Carbonero bestätigen. Die Soziologie-Professorin an der Balearen-Universität leitet das Sozialforschungsinstitut Observatori Social, das seit dem Ausbruch der Pandemie zahlreiche empirische Untersuchungen auf den Inseln koordiniert. Laut einer Studie der NGO Oxfam Intermón, auf die Carbonero hinweist, galten im November vergangenen Jahres 19,6 Prozent mehr Menschen auf den Balearen als „armutsgefährdet" als vor Corona. In keiner anderen Region Spaniens sei der Anstieg so stark gewesen. Betroffen waren im vergangenen Jahr rund 317.000 Menschen auf Mallorca und den Nachbarinseln, die weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Netto-Äquivalenzeinkommens zur Verfügung hatten. Etwa 100.000 von ihnen - fast sechsmal so viele wie 2019 - haben die Armutsgrenze klar überschritten und gelten als „arm", weil sie monatlich über weniger als 40 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verfügen.

Aktuelle Armutszahlen, die Veränderungen durch den anlaufenden Saisonstart widerspiegeln, gibt es noch nicht. Eine kleine Besserung über den Sommer sei wahrscheinlich, „aber im kommenden Winter wird sich die Situation wieder verschärfen", prognostiziert Maria Antònia Carbonero. In welchem Ausmaß, das hänge maßgeblich davon ab, ob die Politik weiter an der Auszahlung von Kurzarbeitergeldern festhalte.Was schon lange im Argen liegt

„Es ist ein Wunder, dass eine Wirtschaft, die so auf eine einzige Branche fixiert ist wie die Balearen, nicht viel früher solch eine Krise erlebt hat wie diese", sagt Carbonero. Die Pandemie zeige umso deutlicher, was auf den

Inseln schon lange im Argen liege: prekäre Arbeitsbedingungen, viel zu hohe Mietpreise, zu wenig Professionalisierung und extremes Konsumverhalten. „Man kann nur hoffen, dass wir in all diesen Punkten aus der Pandemie lernen", so Carbonero.

Mit dem Anstieg der Armut hat sie auch mehr Armut-Phobie in der Bevölkerung festgestellt. „Viele Menschen haben Angst vor Armut, aber auch Angst vor den Armen. Sie beschuldigen sie direkt oder indirekt, durch ihr eigenes Fehlverhalten schuld an ihrer Armutssituation zu sein. Dadurch werden die Betroffenen stigmatisiert." Dass die Corona-Krise vermeintlich alle und jeden in irgendeiner Form wirtschaftlich getroffen hat, ändere daran nicht viel. „Trotzdem sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich noch größer geworden als zuvor", so Carbonero. Die Oxfam-Intermón-Studie zeige, dass spanienweit die Ärmsten durch die Corona-Krise. Und mal wieder seien es vor allem die ohnehin schon schwächeren Kollektive, die Gefahr laufen, in die Armut abzurutschen: Migranten, junge Menschen und Frauen.Zwei Mal im Abwärtsstrudel

Wie die Armut zu einem regelrechten Strudel werden kann, aus dem die Betroffenen oft nur schwerlich wieder herauskommen, zeigt das Beispiel von Iria Noceda. Die MZ trifft die 39-Jährige an der Tardor-Lebensmittelausgabestelle an, wo sie sich selbst eindecken darf, aber auch ehrenamtlich mithilft. Sie habe bei einer Fluggesellschaft gearbeitet, berichtet Noceda. „2006 habe ich mir eine eigene Wohnung gekauft, dann erwischte mich die Finanzkrise 2008." Der Job war weg, die teure Hypothek musste aber weiter bezahlt werden. Noceda hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Die Schulden häuften sich an.

Erst 2016 ging es wieder bergauf. „Ich fand eine Stelle als Animateurin in einem Hotel in Calvià." Da sich der Immobilienmarkt langsam erholt hatte, wollte sie ihre Wohnung verkaufen - um endlich wieder schuldenfrei zu sein. Doch dann grätschte Corona dazwischen. Noceda kam in Kurzarbeit, der Schuldenberg wuchs ins Unermessliche.

Sozialhilfe-Antrag abgelehnt

Ihre Anträge für staatliche Hilfen, wie die im vergangenen Jahr eingeführte Sozialhilfe Ingreso Mínimo Vital (IMV), wurden alle abgelehnt - so wie bei vielen anderen in ähnlichen Situationen. Spanienweit wurden bis Mitte Mai von 1,32 Millionen Anträgen nur 276.000 bewilligt. „Im Mai hat die Bank meine Wohnung zwangsversteigert", so Noceda weiter. 150.000 Euro kamen so zwar rein. 70.000 Euro an Schulden blieben aber noch übrig. Spätfolgen einer Corona-Erkrankung belasten Noceda zusätzlich. Von der bevorstehenden Saison verspricht sie sich nicht viel. „Nach der Finanzkrise damals habe ich sechs, sieben Jahre gebraucht, um wieder auf die Beine zu kommen. Die Lage nun ist wesentlich schlimmer. Da kann man sich denken, wie lange es diesmal dauern wird."

Dass Mallorca weitere schwere Jahre bevorstehen, daran hat auch Heimke Mansfeld von Hope Mallorca keinen Zweifel. „Die Armut sinkt nicht so schnell wie die Corona-Inzidenz. Selbst die, die keine Schulden aufgenommen haben, und jetzt wieder arbeiten, sind weiter in Schwierigkeiten", ist sie sicher. Denn kaum ein Saisonarbeiter verfüge noch über Rücklagen. Und aufgrund der Kürze der diesjährigen Saison dürften die meisten im Winter weder Anrecht auf Arbeitslosengeld noch auf andere staatliche Unterstützungen haben. „Damit zumindest 2021 ein wirtschaftlich normales Jahr für die im Tourismus Angestellten wird, müssten wir bis Dezember Saison haben. Aber das ist utopisch", sagt Mansfeld.

Immerhin könne Hope Mallorca nicht über rückläufige Spendenbereitschaft klagen, wie es bei anderen, kleineren Hilfsorganisationen der Fall ist. Möglicherweise auch deshalb nicht, weil die Deutsche unermüdlich weiter die Werbetrommel für den guten Zweck rührt. Sie sei noch immer beeindruckt von der Hilfsbereitschaft gerade der Deutschen. „Noch immer bringen uns Urlauber vor ihrer Abreise Lebensmittelreste, noch immer kommen Zweithausbesitzer auf uns zu, die wieder auf der Insel sind und helfen wollen."

Dialogbereitschaft fehle ihr dagegen seitens der Politiker. „Sie können uns in zwei Sekunden die Grundrechte wegnehmen, warum können sie nicht genauso schnell helfen?", fragt Mansfeld. Noch immer sei kein Cent des von der EU versprochenen Geldsegens an Bedürftige gegangen, zu oft hätten Familien um ihre Existenz bangen müssen, weil Kurzarbeitergelder mit mehrmonatiger Verspätung ausgezahlt wurden. „Und warum kann die Balearen-Regierung nicht leer stehende Hotels für Familien bereitstellen, die ihre Bleibe verloren haben?"

Spendenmöglichkeiten: Diese Hilfsorganisationen auf Mallorca sind auf Ihre Hilfe angewiesen

Lesen Sie hier den Kommentar von Sophie: Die Krise ist noch lange nicht überstanden