Eigentlich war es ein harmloser Sprung ins seichte Wasser, doch für Ramón Sampedro bedeutete er den Anfang vom Ende. Der Galicier war 25 Jahre alt, als er ungünstig mit dem Kopf aufkam. Als sein Genick brach. Als man ihn nur mit Mühe vor dem Ertrinken retten konnte - und er sich vom Hals an abwärts gelähmt in einem Krankenhauszimmer wiederfand. Nie wieder würde er etwas anderes als Mund und Augen bewegen können, sagten ihm die Ärzte damals, im Jahr 1968.

Sampedro war schnell klar: Dieses Leben wollte er nicht führen. 30 Jahre lang kämpfte er deswegen vor Gericht dafür, seinem Dasein ein Ende setzen zu dürfen - erfolglos. Die Erlösung durch den Tod brachte ihm schließlich eine Freundin, die ihm - illegalerweise - Sterbehilfe leistete.

Immer wieder taucht der Fall Sampedro auf, wenn in Spanien über das Thema Sterbehilfe diskutiert wird. Nicht zuletzt wegen des Oscar-prämierten Films „Das Meer in mir", der im Jahr 2004 die Geschichte aufgriff. Sampedros Fall mag der prominenteste sein, aber natürlich gibt es viele andere Schicksale. Das Internet ist voll von Erfahrungsberichten unheilbar kranker Menschen. Sie beschreiben tägliche Schmerzen, Ausweglosigkeit, das Gefühl, nur noch dahinzusiechen. Und einen Wunsch: selbst entscheiden zu dürfen, dem Leid ein Ende zu setzen - und ihr Leben so schnell und schmerzfrei wie möglich beenden zu können. „Ich habe das Recht auf Leben. Warum nicht auch auf den Tod?", schreibt eine Nutzerin in einem Patientenforum.

In Spanien wird das bald möglich sein. Als sechstes Land weltweit und viertes in Europa - nach Luxemburg, den Niederlanden und ­Belgien - wird die aktive Sterbehilfe gesetzlich erlaubt. Die Entscheidung des spanischen Parlaments vom 24. März kommt nicht über­raschend. Dennoch geraten die autonomen ­Regionen, die die konkrete Umsetzung organisieren müssen, jetzt ein wenig ins Schleudern. Auf den Balearen sollen bereits am 25. Juni erste Anträge von Betroffenen eingereicht werden können. Doch wenige Tage vor dem Stichtag sind noch viele Fragen offen. Fragen, bei denen es um nichts Geringeres als um Leben und Tod geht.

Klare Theorie, Schwere Praxis

Rosa Duro ist eine Frau, die gleich Sympathie weckt. Sie lächelt viel, ist herzlich und aufmerksam. Es fällt leicht, sich die stellvertretende ­Leiterin der Abteilung für Gesundheitsethik, Patientenbetreuung und Weiterbildung bei der balearischen Gesundheitsbehörde in ihrem eigentlichen Beruf als Hausärztin vorzustellen. Dass sie und ihr Team seit zweieinhalb Monaten, seit Bekanntgabe der neuen Ley Orgánica 2/2021, unter hohem Zeitdruck stehen, merkt man ihr an, weil sie erst einmal nach Luft schnappen muss, als sie das Interview beginnt. „Wir legen gerade einen Sprint hin. Aber der eigentliche Marathon beginnt erst nach dem Stichtag. Wir werden ab dem 25. Juni startklar sein, aber viele Dinge werden sich erst im Laufe der kommenden Monate ­regeln", räumt sie ein.

Das sagt das Gesetz

Obwohl - oder gerade weil - die Grundfesten des neuen Gesetzes von Madrid aus klar vorgegeben sind. Die aktive Sterbehilfe, also die absichtliche und aktive Beschleunigung oder Herbeiführung des Todeseintritts, darf in ­Spanien künftig bei Patienten angewandt werden, die entweder unter einer schweren, unheilbaren Krankheit leiden, die ihre Lebenszeit begrenzt, oder eine chronische Krankheit haben, die nicht mittelfristig zum Tod führt. In beiden Fällen muss ein psychisches oder körperliches Leiden vorliegen, das der Patient als „unerträglich" (insoportable) beschreibt, und das „konstant und nicht tolerierbar" ist ­(constante e intolerable), heißt es im Gesetz.Der Antragsteller muss volljährig und zurechnungsfähig sein oder aber sein Anliegen zuvor detailliert schriftlich festgehalten haben.

Auch die Schritte, die der Patient und die Mediziner im Einzelnen unternehmen müssen, damit dem Todeswunsch nachgegangen werden kann, sind festgelegt. Zunächst muss der Betroffene einen formellen Antrag bei dem ihn behandelnden Arzt einreichen und darin sein Leid mehrfach bekräftigen. Der Antrag wird in einem zweiten Schritt an einen anderen Arzt weitergeleitet, der mit dem Patienten bisher nicht in Verbindung stand. Beide Mediziner müssen den Fall unabhängig voneinander begutachten und dem Antrag dann stattgeben oder aber ihn ablehnen. Die finale ­Entscheidung trifft dann ein Expertengremium. Auf den Balearen setzt sich diese Kommission, wie vorvergangene Woche beschlossen, aus fünf Gesundheitsexperten und vier Juristen zusammen.

Überfordernde Entscheidung

Was auf dem Papier eindeutig erscheint, dürfte in der Praxis für Herausforderungen sorgen. Jeder Fall ist einzigartig, Leiden nicht praktisch messbar. Ein Argument, das beispielsweise in Deutschland das Recht auf aktive Sterbehilfe bisher unterminiert. „Unerträgliches Leiden als Voraussetzung für aktive Sterbehilfe lässt sich einfach nicht objektiv festlegen", betonte der Vorsitzende der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, kürzlich im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur - und kritisierte die spanischen Neuregelungen.

Auch Rosa Duro vom balearischen Gesundheitsministerium räumt ein: Nicht jeder Facharzt wird aus dem Stegreif in der Lage sein, einschätzen zu können, wie gefestigt der Wunsch des Betroffenen wirklich ist. Manch einer dürfte mit der Entscheidung über Leben und Tod schlicht überfordert sein. Auch deshalb setzt die Behörde gerade alles daran, nicht nur die Öffentlichkeit so schnell und ­genau wie möglich über die neuen Möglichkeiten zu informieren, sondern auch viele medi­zinische Fachkräfte auf den Inseln in diesem bisher unbekannten Terrain zu schulen. „Natürlich können wir nicht alle Ärzte in wenigen Wochen weiterbilden", so Duro. „Aber wir wollen zumindest ein Team zusammenstellen, das darauf geschult wird und die Kenntnisse dann weitergeben kann."

Die Rechte des Patienten

Das Gesetz räumt den Patienten weitgehende Mitbestimmung ein. Sie dürfen wählen zwischen dem Setzen einer Spritze und der Einnahme von Tabletten. Sie dürfen entscheiden, ob sie den allerletzten Schritt selbst tun wollen oder ob eine Fachkraft zur Hand gehen soll. Und sie können den Antrag auf Sterbehilfe je nach Präferenz im privaten oder im öffentlichen Gesundheitssystem einreichen. Auch den Ort darf der Patient selbst bestimmen. Will er im öffentlichen Krankenhaus sterben? In einer Privatklinik? Oder zu Hause?

Was - makaber ausgedrückt - schon fast nutzerfreundlich klingt, könnte auf den Balearen zu ganz praktischen Problemen führen. Denn dass die eutanasia - so der in Spanien im Gegensatz zu Deutschland historisch nicht belastete Ausdruck - theoretisch in allen Gesundheitseinrichtungen möglich ist, setzt voraus, dass sich auch flächendeckend Mediziner dazu bereit erklären müssen, das ethisch umstrittene Thema mitzutragen. Verpflichtet ist dazu aber niemand. Wie das neue Gesetz betont, hat jeder Mitarbeiter im medizinischen Sektor zu jedem Zeitpunkt das Recht, sich zu weigern, an der Sterbehilfe mitzuwirken, auch bereits im Vorfeld.

Gewissensfrage

Was passiert also, wenn tatsächlich nicht genug Mediziner mitziehen sollten? Das ist einer der Knackpunkte, die derzeit auch den Organisatoren noch Kopfzerbrechen bereiten. In der Nachbarregion Katalonien gaben bei einer Umfrage immerhin 40 Prozent der Ärzte an, keine Handlungen ausführen zu wollen, die zum Tod des Patienten führen. „Es wird wie beim Thema Abtreibung sein: Einige Ärzte sind bereit dazu, andere nicht. Das wird sich regeln", hofft Duro. Was bleibt ihr auch an­deres übrig? Auch für Ärzte könne es eine Be­reicherung sein, wenn sie ihrem leidenden ­Patienten künftig eine Hilfestellung anbieten können, statt machtlos zusehen zu müssen, wie sich dieser quält, sagt sie.

Sterbe-Tourismus?

Es sei ohnehin nicht mit einer großen Zahl von Anträgen zu rechnen. „Vielen Kranken hilft schon der Gedanke daran, die Möglichkeit zu haben, den Tod zu wählen, auch wenn sie sie dann nicht ergreifen." Dass gar ausländische Patienten beispielsweise aus Deutschland zum Sterben nach Mallorca ­kommen, erwarte man erst recht nicht. Zumindest theoretisch schließt das Gesetz diese Möglichkeit aus: Nur wer seinen Wohnsitz seit mindestens zwölf Monaten in Spanien registriert hat, ist befugt, einen Antrag zu stellen. Ob diese ­Hürde in der Praxis tatsächlich taugt, bleibt abzuwarten. Bei der Wohnsitzangabe wird ja bekanntlich häufig gemogelt. „Das wird sich dann zeigen, aber so weit können wir momentan nicht denken", wischt Duro das Thema vom Tisch.

Sicher sei, dass schon in Kürze einige Anträge von Balearen-Bewohnern eingehen werden. „Das wissen wir von Patientenvereinigungen." Schätzungsweise 60 Fälle könnten dann wohl pro Jahr auf Mallorca bewilligt werden.

Wie es tatsächlich um das Stimmungsbild unter den Medizinern steht, darauf will sich auch Carles Recasens, Vizevorsitzender der ­balearischen Ärztekammer, nicht festnageln lassen. „Prognosen oder Schätzungen dazu, wie groß die beiden Blöcke sind, sind momentan unmöglich." Fest stehe nur, dass das Thema die Berufsgruppe spalte. Und: „Seit das Gesetz bekannt gegeben wurde, haben sehr viele Mediziner mit der Kammer Kontakt aufgenommen und große Bedenken geäußert."

Letztlich gehe es bei der Sterbehilfe um die Grundfesten der medizinischen Berufsethik. Mediziner sollen Leben retten, statt sie zu beenden. Gleichzeitig soll das Wohl des Patienten im Vordergrund stehen. Die in Spanien jahrelang öffentlich, teils polemisch geführte Diskussion um das Für und Wider von Sterbehilfe verlagert sich mit der Verabschiedung des neuen Gesetzes nun zwangsläufig auf die individuelle Ebene innerhalb des Gesundheitssektors. Jede medizinische Fachkraft muss selbst abwägen.

Register der Unwilligen

Damit die Organisatoren im balearischen Gesundheitsministerium schnell ausloten können, wie viele Ärzte außen vor bleiben wollen und auf wen sie zählen können, hat ein eilig zusammengestelltes Team nun vorgeschlagen, ein internes Register einzurichten. Jede Fachkraft, die nicht bereit ist, die Sterbehilfe durchzuführen oder zu unterstützen, soll hier aufgeführt werden. „Das ist ein Punkt, an dem wir unter praktischen Gesichtspunkten noch am Anfang stehen", sagt Consuelo Pau. Die ­Anwältin, die sei Jahren in der Organisation „Derecho a Morir Dignamente" (Das Recht, würdig zu sterben) für die Sterbehilfe in ­Spanien kämpft, ist Mitglied in dem Vorbe­reitungsteam. Man habe sich mehrmals in ­Arbeitsgruppen zusammengefunden - und sich unter anderem das Ziel gesetzt, dass ab dem Tag, an dem der Patient seinen Antrag einreicht, maximal zwei Monate vergehen dürfen, bis er eine Zu- oder Absage bekommt. Pau ist zuversichtlich, dass der Startschuss am 25. Juni gelingt - trotz der kurzen Vorbereitungsphase, und trotz der Unklarheiten rund um das geplante Ärzteregister.Alternative Palliativmedizin?

Carles Recasens von der Ärztekammer hat dagegen Bedenken. „Wir müssten viel mehr einbezogen werden", findet er. Und überhaupt: Der Zeitpunkt des Gesetzes mitten in der Pandemie sei doch „sehr seltsam". Immer wieder schwingt in seinen Worten eine ablehnende Haltung mit. Der Verband wolle verstärkt mehr Ressourcen für die Palliativmedizin fordern - jenem Fachbereich, der seit jeher dazu beiträgt, die Lebensqualität und das Wohlbefinden von Patienten mit unheilbaren Krankheiten zu verbessern. „Wäre es nicht sinnvoller, das Augenmerk darauf zu legen, diesen Bereich auszubauen und den Patienten Alternativen anzubieten, wie sie mit ihrem Leid umgehen können, statt diesen letzten Schritt in den Tod?"

Individuelle Freiheitsrechte

Wenn man diese Frage an Rosa Duro weitergibt, wird schnell klar, dass die Medizinerin sich längst auch in ihre Rolle als Politikerin eingefunden hat. Natürlich sei der Fokus auf die Palliativmedizin wichtig, sagt sie diplomatisch. Daran arbeite man ja auch weiterhin. „Aber das Recht auf Sterbehilfe gibt den ­Patienten eine Autonomie, die in unserer heutigen, von Individualität geprägten Gesellschaft angemessen ist." Sie erinnert dabei sehr an Spaniens Ministerpräsident Pedro ­Sánchez (Sozialisten), der bei der Verabschiedung des Gesetzes überschwänglich twitterte: „Heute sind wir ein Land, das menschlicher, gerechter und freier ist." Zumindest Letzteres trifft sicherlich zu.

Wenn er den neuen Gesetzesbeschluss noch miterlebt hätte - vermutlich hätte ­Ramón Sampedro nun mit den Politikern gejubelt. Wenn. Sein Tod war damals wenig menschlich. Rund 20 Minuten quälte ihn das Zyankali, das eine Freundin ihm auf sein Geheiß hin in ein Wasserglas gemischt hatte und das er mit einem Strohhalm einsog.

Lesen Sie hier den Kommentar: Der Tod wird zur Kassenleistung