Die Wanderin setzt zielstrebig einen Fuß vor den anderen und erklimmt die Stufen aus runden Steinen, die in langen Serpentinen die Schlucht von Biniaraix hoch ins Gebirge führen. An einer Gabelung biegt die Urlauberin ohne Zögern nach rechts ab. „Die kommt bestimmt gleich wieder zurück", meint Miquel Martorell. Der Mallorquiner soll recht behalten. Kurz darauf taucht die Mallorca-Urlauberin wieder auf, um die Route mit ihrem an der Gabelung wartenden Begleiter auf dem neuen Weg fortzusetzen. „Auf dem alten sind nur wenige Wanderer unterwegs", sagt Martorell.

Statt vom alten und neuen Weg sprechen die Besitzer der 118 Baracken in der Schlucht vom Sonnen- und Schattenweg. Der eine ist breit, frisch restauriert und trotz der immensen Höhenmeter so etwas wie die Autobahn der Wanderer: Der Fernwanderweg GR-221 führt hier vom Sóller-Tal bis hinauf zum Cúber-Stausee. Der andere Weg ist deutlich weniger in Schuss und liegt fast ganzjährig im Schatten - genauso wie die Geschichte und die Geschichten rund um den Barranc de Biniaraix, die Martorell in vierjähriger Arbeit recherchiert und in einem Buch zusammengetragen hat. „Ich wollte nicht, dass die Dinge, die man sich hier erzählt, verloren gehen", sagt der 49-jährige Landwirt aus Santa Eugènia, dem heute zwei versteckt gelegene Behausungen in der Schlucht gehören.

Es war im Jahr 1955, als Gabí Alomar auf dem Weg zur Drosseljagd eine Wildkatze erspähte. Er zielte zweimal auf sie, und das angeschossene Tier verkroch sich auf eine Kiefer. Gabí wollte sich die weiteren Schüsse für die Drosseln aufheben. Da traf es sich gut, dass in der Nähe wohnende Jäger vorbeikamen und ihm anboten, sich um das Tier zu kümmern. „Heute Abend bist du zum Essen eingeladen, es gibt Katze mit Zwiebel."

Anekdoten wie diese wechseln sich im Buch mit Beschreibungen von Natur und Traditionen ab. Es ist kein Buch für Urlauber, sondern trägt die Erinnerungen von Menschen zusammen, die sich in vortouristischer Zeit in dieser unzugänglichen Gegend ihr Auskommen suchen mussten, hier zur Jagd gingen, Terrassen an den Steilhängen anlegten, um Olivenbäume pflanzen zu können, Holzstämme ins Tal transportierten, Kalköfen betrieben, Pilze,

Kirschen oder auch Schnecken sammelten, Gräser als Futter für die Tiere schnitten und Baracken als Unterschlupf und Lager bauten. Was heute Kulisse für Wanderer und Trailläufer ist, war früher der Arbeitsplatz der Ärmeren. Der Ursprung der Wege ist unklar, fest steht nur: Der Schattenweg ist deutlich älter, vielleicht stammt er aus prähistorischer Zeit und war eine Verbindung zwischen Sóller und der legendären Almallutx-Siedlung, die unter dem Stausee Gorg Blau begraben liegt.

Martorell zeigt Vertiefungen im Stein, die Generationen von Eseln in den Weg getrampelt haben dürften. Heute sind noch sieben Tiere im Einsatz, die den Bewohnern beim Transport helfen. Von drei Besitzern weiß Martorell, dass sie fast das ganze Jahr hier wohnen. Die anderen schauen ab und zu für ein paar Tage vorbei oder haben die Behausung ihres Großvaters längst vergessen und versuchen, sie zu verkaufen. Ein Viertel der porxos ist ohnehin längst eingestürzt, ein weiteres Viertel steht kurz davor. Der Barranc de Biniaraix gehört tatsächlich zu den Orten, wo die Zeit stehen geblieben ist. Hier herauf führt keine Straße, keine Wasser- oder Stromleitung. Und es wohnt hier auch noch kein Deutscher.

Es war im April 1959, als ein britischer Reisender in der Nähe des kleineren der beiden Cornador-Gipfel rund 40 Meter in die Tiefe stürzte. Obwohl die Familie des Opfers eine Summe von 30.000 Peseten aussetzte, wurde die Leiche erst Jahre später entdeckt - an dieser gefährlichen Stelle kommt oft monatelang kein Mensch vorbei. Seit dem Unglück heißt sie Pas de s'Anglès. Allerdings war das Opfer gar kein Brite. Der Grabstein auf dem Friedhof von Sóller trägt den Namen eines Mannes aus Bremen: Peter Kurt Luttgens, geb. 12-9-1920, gest. 4-4-1959.

Durch Glück konnte Martorell mit dem Enkel des Totengräbers sprechen. An die Geschichten zu kommen, war eine Geduldsprobe. Der Mallorquiner fragte sich immer weiter durch, bekam neue Namen, hinterließ Zettel bei verlassenen Baracken, wartete auch mal ein Jahr auf einen Rückruf. Der Begriff Nachbar ist hier oben relativ, man sieht sich oft monatelang nicht. Fast alle stammen aus Sóller, Fornalutx oder Biniaraix, ein paar wenige aus Palma, einzige Ausländer sind zwei Briten. Manche überlassen die Behausung auch einem Bekannten, der nach dem Rechten sieht und dafür Oliven ernten darf. So begegnet man fast niemandem. Es ist still, nur das Rauschen des Sturzbachs, der nach den intensiven Regenfällen gerade für ein paar Tage fließt, ist beim Aufstieg zu Martorells porxo zu hören. Da ist es schon großer Zufall, dass uns Miquel überholt, er wohnt rund 15 Gehminuten entfernt. Einige Tage wolle er bleiben und wieder mal auf die Jagd gehen, erzählt er.

Es war um das Jahr 1945, als Miquel Rosselló, damals noch ein Kind, mit beim Jagen war. Statt eines Gewehrs kam ein 15 mal 30 Meter langes Netz zum Einsatz. Es wurde frühmorgens über dem Sturzbach zwischen den Wänden der Schlucht aufgespannt. Wenn dann die Tauben in die Luft stiegen, verfingen sie sich in den sieben Zentimeter breiten Maschen. „Caçar amb banda" hieß die Jagdmethode in Mallorcas Schluchten, die heute längst verboten ist.

Wir sind angekommen. Ca Mestre Jaume Es Siquier steht auf dem Holzschild am Eingang, als Hommage an den früheren Eigentümer. Die Hütte auf der Felsnase mit Panoramablick auf den GR-221 gehört Martorell seit 2014, bezahlt habe er für das gut 3.000 Quadratmeter große Grundstück 12.000 Euro. Die Einrichtung ist einfach, hat aber einen unschätzbaren Wert angesichts der Tatsache, dass praktisch alles zu Fuß hier hochgeschleppt werden musste - von den Matratzen über den Tisch bis hin zur Tür. Auch den Setzling für einen Olivenbaum hat der Mallorquiner selbst hochgetragen. Er wächst nun auf den Terrassen zwischen den uralten Bäumen, die nach einer fachmännischen Behandlung neu ausschlagen, durch Netze geschützt vor den verwilderten Ziegen.

„Das hier ist mein Kühlschrank", sagt Martorell und zeigt auf einen mit Wasser gefüllten Bottich in einer Höhle in der Felswand. Ein Joghurtbecher schwimmt darin. Ein weiterer Bottich enthält Bierdosen, von denen die MZ-Besucher angeboten bekommen, im Gegenzug für eine mitgebrachte Flasche Wein. Es tropft beständig von der Decke in die Bottiche, zumindest jetzt nach den ergiebigen Regenfällen. Früher war das eine zuverlässige Wasserquelle. Heute in Zeiten langer Trockenperioden versiegt sie immer schneller. „Es gibt Quellen, die früher das ganze Jahr sprudelten, und heute nur noch ein paar Monate", sagt Martorell. Den Olivenbäumen fehlt ebenfalls Wasser, den Kirschbäumen die Kälte im Winter. „Den Klimawandel können wir hier hautnah spüren."

Wenn man sich um den Barranc de Biniaraix Sorgen machen muss, liegt das aber auch an der öffentlichen Verwaltung. Sie müsse nicht nur die Wege erhalten, sondern auch die Bauvorschriften modernisieren, fordert Martorell. Der strenge Denkmalschutz verbietet theoretisch, zerfallene Behausungen wieder herzurichten. Es müsse möglich sein, dass Besitzer kaputte Ziegel austauschen, ohne eine Strafe fürchten zu müssen, findet der Mallorquiner, der sich mit anderen Barranc-Bewohnern in einer WhatsApp-Gruppe zusammengetan hat. Auch die Anlage von Brunnen, kleinen Zisternen oder Trockentoiletten müsse möglich sein. Die Tramuntana - inzwischen Welterbe der UNESCO - ist schließlich eine von Menschen geformte Kulturlandschaft und das Erbe der Vorfahren, keine unberührte Natur. Überall sind Wege, Terrassen und Zisternen angelegt. Sogar einer ausgeklügelten, mehrere Kilometer langen früheren Wasserleitung ist Martorell auf die Spur gekommen.

Es war im November 1980, als Jeroni Lorente, Toni Marroig und Agustí Marroig nach Einbruch der Dunkelheit ein seltsames Licht entdeckten. Sie näherten sich bis auf 500 Meter und machten in der hellstrahlenden Lichtkugel eine menschenähnliche Gestalt aus. Sie zeigte sich im Profil, ohne Arme, über dem Boden schwebend. Die Kugel verschwand in der Höhle der Quelle Font des Verger. Am nächsten Morgen konnten die drei nichts Verdächtiges finden. Er habe aber schon immer das Gefühl gehabt, dass die Höhle ein Geheimnis hüte, meint Jeroni.

„Wir hier oben, wir nennen uns gegenseitig die Durchgeknallten", meint Martorell. Wer nimmt schon freiwillig die Fußmärsche und die Schlepperei auf sich? Es ist freilich eine Frage der Perspektive: Wer sich für Achtsamkeit, Entschleunigung und minimalistische Lebensentwürfe interessiert, kann hier auf den Geschmack kommen. Oben auf dem Berg gibt es nichts Überflüssiges, alles findet Verwendung, nichts lenkt ab. Rund hundert Tage im Jahr sei er hier oben, sagt der Mallorquiner. Hat er Lust auf Gesellschaft, hilft ein Schneckengehäuse, das auf dem Tisch steht. Früher wurde damit ein Signalton fürs Essenfassen ausgestoßen. Heute ist er ein Zeichen für die Nachbarn, dass man eingetroffen ist oder aufbricht.

Als es Zeit für den Abstieg wird, überlegt der Mallorquiner kurz. „Ihr findet den Weg nach unten auch allein, oder?"

Miquel Martorell Ramis:„Barranc de Biniaraix. Cent Porxos, cent històries"(

Hundert Baracken, hundert Geschichten),ISBN 978-84-01-03844-0.