Da ist der 77-jährige Großvater aus Palma de Mallorca. Jedes Mal, wenn seine Enkelin bei ihm übernachtete, ging er zu ihr, begrapschte sie. Über ein Jahr lang, bis sein Sohn – der Vater des Opfers – davon erfuhr und den Rentner anzeigte. Und da ist der 25-jährige Basketball-Trainer aus Felanitx. Mindestens fünf seiner minderjährigen Schützlinge soll er missbraucht haben. Es sind nur zwei von mehreren Fällen, die allein im Juli auf Mallorca publik wurden. Fast täglich finden neue Meldungen über Missbrauchsfälle von Minderjährigen den Weg in die Schlagzeilen – die Medien räumen dem Thema viel Platz und Sendezeit ein. Zusätzliche Brisanz hat das Thema durch Quarantäne und Ausgangssperren bekommen: Die Kinder waren dann oft mit ihren Peinigern eingesperrt.

Das bestätigt Elizabeth Homberg, Gründerin der Fundación Rana auf Mallorca, die sich die Stiftung neben der Präventionsarbeit vor allem auf die Therapie von Erwachsenen, die in ihrer Kindheit missbraucht wurden, spezialisiert. Die Stiftung hat keine Zahlen über aktuelle Fälle von Kindesmissbrauch in Corona-Zeiten, aber die Erfahrung zeigte, dass die große Mehrheit der Fälle im familiären Umfeld stattfindet. „Quarantäne und Ausgangssperre können also zwei Dinge bewirken: Entweder, die Opfer sehen ihre Peiniger dadurch weniger, weil sie nicht direkt mit ihnen zusammenleben“, so die Rana-Psychologin Beatriz Benavente. „Oder aber sie sind ihnen noch schutzloser ausgeliefert als sonst, weil sie gemeinsam ans Haus gefesselt sind. Zum Beispiel, wenn der eigene Vater oder Stiefvater der Täter ist.“ Und das sei nicht selten der Fall.

Benavente führt Statistiken über die mehr als 500 erwachsenen Patienten, die seit 2009 bei Rana eine Therapie gemacht haben, um ihre Kindheitserlebnisse aufzuarbeiten. Die Zahlen sind trocken und schockierend zugleich: In 36 Prozent ist der Vater, Stiefvater oder neue Partner der Mutter der Täter, in 24 Prozent der Fälle ist es ein Freund der Familie, in 13 Prozent der Bruder, in 10 Prozent der Cousin, in 8 Prozent der Großvater, in 6 Prozent der Onkel. Bei einem Prozent die eigene Mutter, ebenfalls bei einem Prozent handelt es sich um einen Unbekannten, der nichts mit der Familie zu tun hat. „Wobei die Zahl der Außenstehenden bei den aktuellen Fällen von Kindesmissbrauch höher liegen dürfte, da in den vergangenen Jahren die Kontaktaufnahme übers Internet gestiegen ist. Da gibt es also einen zusätzlichen Risikofaktor für die Kinder“, so Benavente. Und auch hier: Die Pandemie begünstigt die Chancen für die Täter, sich ihren Opfern digital zu nähern. Nachweislich verbringen Kinder und Jugendliche viel mehr Zeit im Internet als vor Corona.

Jeder Fünfte betroffen

Zugleich ist Kindesmissbrauch alles andere als ein seltenes Phänomen. 20 Prozent der Bevölkerung – also jeder Fünfte – soll während seiner Kindheit eine Form sexuellen Missbrauchs erfahren haben. Teils durch subtilen Exhibitionismus, teils durch Berührungen, teils durch Penetration und Vergewaltigung. Meistens komme es aber nicht, oder erst viel später, zu Anzeigen. Doch auch hier ist die Tendenz steigend: Laut der spanischen Kinderhilfsorganisation ANAR vervierfachte sich die Zahl der dokumentierten Fälle in den vergangenen zehn Jahren. Während im Jahr 2008 noch 273 Fälle in Spanien zur Anzeige gebracht wurden, waren es 2020 bereits 1.093.

„Dass es auf Mallorca so häufig zu Missbrauch kommt, hätte ich selbst nie gedacht, bevor ich die Stiftung gründete. Gleichzeitig ist das Bewusstsein in der Öffentlichkeit für dieses Thema deutlich gestiegen“, sagt Elizabeth Homberg. Die Berichterstattung in den spanischen Medien trage dazu bei. Und genau das sei gut. „Je mehr darüber gesprochen wird und je mehr Kinder und Erwachsene sensibilisiert sind, desto eher kann man Missbrauch unterbinden“, so Beatriz Benavente.

Meist seien es subtile Anzeichen, die darauf hinweisen könnten, dass ein Kind missbraucht wird. „Plötzliche Änderungen im Verhalten der Kinder können ein Hinweis sein. Wenn sie auf einmal wieder ins Bett machen oder damit anfangen, am Daumen zu lutschen, oder wenn sie sich weigern, eine bestimmte Person zu sehen“, so die Psychologin. Ausschlaggebend dafür, diese Auffälligkeiten richtig zu deuten, sei ein konstanter Dialog mit den Kindern und eine Enttabuisierung des Themas. „Schon die kleinen Kinder müssen lernen, dass niemand sie anfassen darf.“

Die Auswirkungen von Missbrauch auf die Psyche begleiten die Opfer oft ihr Leben lang. Häufig treten sie erst im Laufe der Jahre deutlich zum Vorschein, wenn die Missbrauchten jugendlich oder längst erwachsen sind. Zum Beispiel durch Essstörungen, Panikattacken, Depressionen, einen ausgeprägten Hang zu Suchtmitteln, selbstverletzendes Verhalten, wenig Selbstbewusstsein und oder Bindungsstörungen. Auch die Suizidgefährdung steigt.

Suizidversuch mit sieben Jahren

Dass schon Kinder so weit gehen, sich das Leben nehmen zu wollen, ist selten der Fall. Doch auch hier zeigen die Statistiken einen beunruhigenden Anstieg. Während vor Corona innerhalb von acht Jahren insgesamt vier Minderjährige in Intensivstationen auf den Balearen behandelt werden mussten, weil sie versuchten, sich umzubringen, waren es allein im Jahr 2020 fünf. Hinzu kommen zahlreiche Selbstmordversuche, bei denen die Kinder auf der Station oder ambulant behandelt werden mussten. Zwei davon hat Oriol Lafau, Koordinator für psychische Gesundheit in der Landesregierung und Psychiater im Landeskrankenhaus Son Espases, selbst behandelt. „Die Kinder waren sieben und acht Jahre alt, das hatte ich vorher noch nicht erlebt, es ist sehr ungewöhnlich“, so Lafau im Gespräch mit MZ-Schwesterzeitung „Diario de Mallorca“.

Nicht immer, aber doch häufig, sei sexueller Missbrauch der Grund für die Verzweiflung der jungen Menschen. Auch Lafau sieht einen direkten Zusammenhang zur Ausgangssperre im vergangenen Jahr, die die Situation verschärft hat. „Sie hat die Kleinsten gezwungen, noch enger mit ihren Monstern zusammenzuleben, mit den Personen, die sie körperlich oder psychisch missbrauchen“, bestätigt der Experte. Hinzu käme, dass die Kinder die Ängste und Sorgen miterlebten, die Erwachsene in vielen Familien wegen der coronabedingten Wirtschaftskrise plagten und plagen. All das verschärfe den Druck im Familiengefüge – nicht selten seien Gewalt und Erniedrigung gegenüber den Schwächsten im Haushalt die Konsequenz. Die Verantwortlichen in Son Espases reagierten jetzt: Ab sofort gibt es dort eine ambulante Anlaufstelle, die auf selbstmordgefährdete Kinder spezialisiert ist.

KOMMENTAR

Ein Schutzschild für die Kinder

Als Journalistin ist man abgebrüht. Könnte man meinen. Nach Jahren, in denen immer wieder Themen wie Mord und Totschlag, soziale Ungerechtigkeit und Betrug auf dem Schreibtisch landen, baut man eine gewisse innerliche Distanz auf. Doch jetzt, dieses eine Mal, ist bei mir der Damm gebrochen. Kindesmissbrauch. Das zerbricht auch mein härtester professioneller Schutzschild. Umso inniger gebe ich den Rat der Profis weiter: Kommuniziert mit euren Kindern, nehmt Anzeichen ernst, seid für sie da. Damit sie es nicht sind, die zerbrechen. Sophie Mono