Regelmäßig werden Fälle mutmaßlicher Vergewaltigungen auf Mallorca publik – vor allem im Sommer und in den Partyhochburgen der Insel. Einige davon entfachen reges mediales Interesse. Wie der des Deutschen, der Anfang August an der Playa de Palma eine Britin auf offener Straße vergewaltigt haben soll. Oder der des ebenfalls deutschen Mannes, der sich im Juni in Cala Ratjada mutmaßlich an einer Österreicherin vergangen hat. Andere Fälle gehen in kleinen Randnotizen der Zeitungen unter. Wieder andere dringen überhaupt nicht an die Öffentlichkeit.

Das eine sind die Schlagzeilen, das andere die Statistik. „Vergewaltigungen kommen auf den Balearen leider täglich vor“, sagt Maria Duran. Die Leiterin des Fraueninstituts IB Dona der Balearen-Regierung hat die Zahlen vor sich auf dem Bildschirm: 743 Anzeigen wegen sexueller Gewalt wurden im Jahr 2019 auf den Inseln aufgenommen – also mehr als zwei pro Tag. „160 Fälle davon waren Vergewaltigungen mit Penetration, bei den anderen ging es um andere Gewaltdelikte mit sexuellem Hintergrund“, so Duran. Nach dem Ausnahmejahr 2020, als 30 Prozent weniger Anzeigen erstattet worden waren, sind die Fälle in diesem Jahr wieder auf Vor-Corona-Niveau. „In den Sommermonaten ist die Zahl deutlich höher“, so Duran, „es lässt sich ein klarer Zusammenhang mit dem Tourismus erkennen.“

Allerdings nur bedingt: Wie eine Studie zeigt, die das IB Dona im vergangenen Jahr in Auftrag gab, handelt es sich in etwa 40 Prozent der auf den Inseln angezeigten Vergewaltigungen um sexuellen Missbrauch an Minderjährigen. Und der finde genauso auch im Winter und meist in den eigenen vier Wänden des Opfers oder des Täters statt. Dass eine erwachsene Frau im öffentlichen Raum von einem Triebtäter aufgegriffen wird, passiere überwiegend dann, wenn die Hochsaison in vollem Gange ist – allein schon deshalb, weil dann mehr Menschen auf der Insel sind und Partys und Alkoholkonsum die Hemmschwellen senken.

464 Urteile um Sexualstraftaten und die zugrunde liegenden Fälle haben die Verfasser der Studie analysiert. Sie alle wurden zwischen 2015 und 2019 vom Obersten Gerichtshof auf den Balearen ausgesprochen. Detailliert schlüsselt der Bericht auch die Tatorte auf: In Bars oder Diskotheken selbst kam es bei den untersuchten Fällen kaum zu Vergewaltigungen (1,2 Prozent), wohl aber an anderen Orten, die Opfer und Täter anschließend aufsuchten, beispielsweise in Fahrzeugen oder Hotelzimmern (18 Prozent). In etwa 13 Prozent der Fälle misshandelten die Täter ihre Opfer an wenig belebten Orten wie nachts im Park oder in menschenleeren Straßen. Dabei seien die Täter fast ausschließlich Männer, und in 90 Prozent der Fälle handelten sie allein.

Lange Verfahren

Die Studie soll auch zeigen, was aus den Anzeigen wurde: In einem Drittel der Fälle vergingen zwei bis fünf Jahre oder sogar noch mehr Zeit zwischen dem Erstatten der Anzeige und dem Urteilsspruch. „Die Gerichte arbeiten langsam, das Verfahren zieht sich hin, all das ist hart für die Opfer und erschüttert oft ihr Vertrauen in das Rechtssystem“, so Duran.

Die überwiegende Mehrheit der Frauen musste ihrem Peiniger zudem im Gerichtssaal Auge in Auge noch einmal gegenüberstehen. Nur in Ausnahmefällen – beispielsweise wenn die Opfer im Ausland lebten – gestatteten die Richter eine Aussage per Videokonferenz. In 42 Prozent der Fälle wurden vor der Urteilsverkündung keine Maßnahmen gegen den mutmaßlichen Täter – wie beispielsweise Näherungsverbote oder U-Haft – eingeleitet, um das Opfer zu schützen. 16 Prozent der Angeklagten wurden letztlich freigesprochen. Bei mehr als einem Drittel betrug das Strafmaß weniger als zwei Jahre. „Es ist kein Wunder, dass viele Opfer eine Anzeige scheuen“, so Maria Duran.

Sehr viele sogar. Nur zehn bis zwölf Prozent der tatsächlichen Fälle, so schätzt die Leiterin des Fraueninstituts, werde überhaupt jemals an offizieller Stelle dokumentiert. Das ergibt eine Dunkelziffer von rund 90 Prozent. „Das ist ein enormes Problem, das wir ernsthaft angehen“, so Duran. Schon jetzt hätten Opfer die Möglichkeit, Hilfe per Telefon oder WhatsApp anzufordern (siehe unten). „Das IB Dona bietet einen Begleitservice für den Gang zum Arzt oder auf die Polizeiwache sowie psychologische Betreuung.“ Auch Ausländer, die weder Spanisch noch Katalanisch sprächen, könnten dort Unterstützung finden. „Aber das reicht noch nicht. Wir planen, im kommenden Jahr ein Krisenzentrum auf Mallorca mit Außenstellen auf den anderen Inseln zu errichten, um den Opfern besser helfen zu können.“ Man rechne balearenweit mit bis zu 7.000 Anfragen pro Jahr.

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Dabei versprechen die Maßnahmen natürlich – wenn überhaupt möglich – nur Schadensbegrenzung. Um die Zahl an Vergewaltigungen und Missbrauch zu senken, brauche es einen gesellschaftlichen Wandel, glaubt Duran. „So banal es klingt: Die Gesellschaft muss lernen, dass das Bild des Jägers, Eroberers oder Don Juans nicht mehr existieren darf“, so die Leiterin des Fraueninstituts. „Die Männer müssen verstehen, dass Sex nun einmal nur im klaren Einverständnis der Frau möglich sein darf und sie bei dieser Entscheidung kein Objekt, sondern gleichberechtigt ist.“ Dafür müsse bereits in der Kindheit ein emanzipiertes Wertesystem verankert werden. Kampagnen wie „No i punt“ (in etwa: „Hier ist Schluss“) von Mallorcas Inselrat sollen dazu beitragen, sexuelle Aggressionen schon im Keim zu ersticken.

Mehrsprachige Hilfe für Opfer von sexueller Gewalt bietet das IB Dona telefonisch (+34 971-17 89 89) oder per WhatsApp (+34 639-83 74 76).