MZ-Archiv: Dieser Artikel erschien erstmals im April 2011

Die Kathedrale ist aus Marès gebaut, das Schloss Bellver, das Gran Hotel, das Parlament. Der natürliche Kalksandstein ist überall auf Mallorca präsent. Umso überraschter war Ramón ­Sánchez-Cuenca, als er bei seinem Berufseinstieg vor 40 Jahren entdeckte, dass es über dieses Material kaum Fachliteratur gab.

Dabei hatte der studierte Chemiker als ausgebildeter Spezialist für die Sanierung historischer Gebäude fast täglich mit Marès zu tun. Er begann damit, selbst zu forschen und trug über die Jahre hinweg ein beeindruckendes Material zusammen. Als er es aber veröffentlichen wollte, erlebte er die zweite Überraschung: Weder die Behörden noch die Architektenkammer der Balearen interessierten sich dafür. Sánchez-Cuenca hat sein Buch im vergangenen Jahr schließlich selbst herausgebracht. Und wirft Baumeistern und Architekten vor, sich um ein immens wichtiges Material nicht ausreichend zu kümmern.

Wie sich diese Unkenntnis auswirken kann, war unlängst am Sitz des Meeresforschungsinstituts Imedea in Esporles zu sehen. Das Gebäude – ein aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg stammender Schulbau – sollte mit Marès umgestaltet werden. Dabei beging der Architekt eine Todsünde: „Marès und der auf Mallorca so häufig verwendete Portland-Zement sind miteinander verfeindet", erklärt Sánchez-Cuenca. „Die Materialien reagieren zum Beispiel auf Temperaturschwankungen ganz unterschiedlich." Das Ergebnis: Wenige Monate nachdem der Bau mit einer Zementstruktur „modernisiert" worden war, taten sich im Marès-Mauerwerk derart große Risse auf, dass das Gebäude eilig abgestützt werden musste.

Die Episode beweist: Die traditionellen Kenntnisse über den Marès, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, sind im 20. Jahrhundert verloren gegangen. Einige wenige Baumeister und Architekten machen sich heute noch die Mühe, sich mit diesem Material auseinanderzusetzen.

Dabei war es ein weltberühmter Architekt, der Marès auf Mallorca Anfang der 70er Jahre für die moderne Architektur neu entdeckte: Jørn Utzon, Erbauer der Oper von Sydney (siehe Kasten). Schon er hatte Mühe, für die Umsetzung seiner Pläne die geeigneten Leute zu finden, denn kaum ein Baumeister hatte Erfahrung mit dem einst allgegenwärtigen Material.

Schließlich stieß er auf einen Mann aus Santanyí, der sich für das Projekt begeisterte und für den der Bau der beiden Utzon-Villen eine lebensverändernde Erfahrung wurde: Jaime Vidal. Nach seiner Arbeit mit Utzon weigerte sich Jaime Vidal, je wieder ein „normales" Haus zu bauen. Auf diesen Baumeister nun stieß Jahre später Neus García Iñesta, eine renommierte Architektin, die Utzons Faden wieder aufgenommen hat: sie, die auch die Restaurierung und den Umbau historischer Bauten geleitet oder begleitet hat, begann, ihre Kunden davon zu überzeugen, mit Marès zu bauen. Das war und ist nicht leicht, denn das Material hat trotz großartiger Referenzen wie der Kathedrale einen schlechten Ruf. Denn Marès ist komplex, und Fehler – siehe Imedea – sind rasch begangen.

Das hat wohl mit dem Ursprung dieses Steins zu tun. „Marès ist komprimierter Sand vom Meeresgrund", sagt Sánchez-Cuenca. „Und Sand ist ja nichts anderes als Kalkablagerungen von abgestorbenen Krustentieren und Seegras." Das sei auch der Unterschied zu Sandstein, der aus Quarzkörnern bestünde.

Über Jahrmillionen hat sich der Marès-Sand gefestigt und ist zu Stein geworden. Ein Stein, der an jedem Ort andere Qualitäten aufweist, einen anderen Härtegrad, andere Farbtöne. Das macht die Arbeit so kompliziert: Wer nicht weiß, welcher Steinbruch der Insel den idealen Marès für welchen Verwendungszweck liefert, tappt leicht in die Falle. Die Unterschiede können gewaltig sein. Sánchez-Cuenca hat Material­proben aus 30 Steinbrüchen der Insel auf ihre Druckfestigkeit hin untersucht. Die Ergebnisse variierten von schwammigen 20 Kilo pro Quadratzentimeter bis zu stahlharten 600. Beton bringt es auf 300 bis 400.

Die Architektin García Iñesta, die 1997 gemeinsam mit ihrem Ehemann ein Buch über das Bauen mit Marès verfasste, mag diese Komplexität, weil sie ein „lebendiges Material" suggeriert. „Der Stein strahlt eine beeindruckende Wärme aus", sagt sie. „Ich bevorzuge ökologisches Material, das transpiriert. Der Marès hat Poren, so wie alles Lebendige in der Natur Poren hat und transpirieren kann. Sein Ursprung ist die Ablagerung vieler Dinge, darunter Meerestiere, Teile von Muscheln, und daher trägt Marès diese doppelte Information von Erde und Wasser in sich."

Richtig verwendet, meint die Architektin, sorgt Marès für ein fantastisches Raumklima, ein Thema, das die Mallorquinerin besonders interessiert: „Marès absorbiert Sonnenstrahlen und Wasser besonders leicht." Die „Schwammfunktion" sei kein Grund zur Sorge: Der Stein sauge auf und gebe ab, man müsse nur für eine gute Ventilation sorgen und Nordfassaden schützen. „Mit Marès wird das Haus zur perfekten Höhle, die im Sommer kühl, im Winter warm ist."

Allerdings gibt es kein marktfähiges Labor, in dem man Marès prüfen lassen kann, „das Material ist ungeregelt, es gibt keine Normen", und die Leute, auch Fachleute, wüssten nicht, wie man den richtigen Marès aussuche, bestätigt sie. Sie selbst macht es wie die alten Baumeister: „Ich bringe den Stein zum Singen." Nämlich indem sie ihn anklopft und dem entstehenden Klang lauscht.

Weniger poetisch sind die Tabellen im Buch von Sánchez-Cuenca. Die Materialprüfungen hat er weitgehend im Do-it-yourself-Verfahren abwickeln müssen. In seinen Arbeitsräumen in Palma hat er eine „Lithothek" aufgebaut: Zwei Regale mit Steinproben aus ganz Mallorca, die wie Bücher aneinandergereiht sind.

Allerdings stellen seine Daten nur bedingt eine Hilfe dar, weil die Qualität des Steins selbst in ein und demselben Steinbruch manchmal variiert. Sehr schlechte Qualität, sagt García Iñesta, sei indes leicht zu erkennen: Der Marès brösle schon bei starker Berührung und manchmal schon bei schärferem Hinschauen ab, wie leidgeprüfte Besitzer alter mallorquinischer Häuser wissen.

Pfusch mit Marès ist keine Erfindung der Neuzeit, auch früher sind Bauprojekte vermasselt worden. Als Beispiel nennt Sánchez-Cuenca die Kirche von Sineu, die aus „Marès ungenügender Qualität" errichtet wurde, was eine „furchtbar schwierige Sanierung" erforderlich gemacht habe: „Der Stein hielt auf Dauer dem Gewicht des Bauwerks nicht stand."

Eigentlich wäre genau wegen dieser Komplexität eine systematische Katalogisierung der Marès-Typen und die Ausbildung der Architekten so wichtig. Denn der Stein steckt in allem, was alt ist, und manchmal kennen Techniker nicht einmal die grundlegenden Eigenschaften des Materials. „In Salamanca kamen sie auf die Idee, die Mauern der Kathedrale zu entfeuchten", erzählt Sánchez-Cuenca. „Der für den Bau verwendete Kalkstein ist dem Marès ähnlich, und ein gewisser Feuchtigkeitsgrad ist für seine Konsistenz sehr wichtig." Prompt seien durch die „Sanierung" aber Strukturprobleme aufgetreten, die es vorher gar nicht gegeben hätte. „Ich habe mal meinen Sohn gefragt, was man im Architekturstudium eigentlich so lernt", erzählt Sánchez-Cuenca, in dessen familiärem Umfeld es von Architekten nur so wimmelt. „Und er sagte mir: Man bringt uns bei, genial zu sein."

Heutige Architekten wären seiner Ansicht nach nicht mehr in der Lage, ein Gebäude wie die Kathedrale mit traditionellen Materialien zu errichten. Früher spielten die Architekten mit verschiedenen Marès-Varianten, je nach deren Funktion in der Gebäudestruktur. Für die Kathedrale bedienten sich die Baumeister aus Steinbrüchen in Llucmajor und Calvià, die nahe am Meer lagen, weil die Blöcke mit Booten am leichtesten zu transportieren waren.

„Im 20. Jahrhundert galt Marès als Baumaterial der Armen", erzählt García Iñesta. Mittlerweile aber gingen die Steinbruchbesitzer davon aus, dass nur Reiche darauf zurückgreifen – die Preise sind explodiert. Die Architektin hat deshalb eine Pause eingelegt. Ein großes Comeback des Marès wäre ohnehin nicht in ihrem Sinne: „Man sollte in die Insel nicht zu viele Löcher machen."

„El Marès", Ramón Sánchez-Cuenca, Selbstverlag, 19,50 Euro. „Construir en Marès", Neus García Iñesta und Oliver Sunyer, Colegio Oficial de Arquitectos de Baleares, 19,83 Euro