Ein aggressiver starker Mann um die 30 steht mit erhobener Faust da, eine junge Frau verdeckt ihr Gesicht mit den Händen, versucht, sich und ihre Kinder vor dem Angriff zu retten. Wenn es um häusliche Gewalt geht, haben Menschen klare Bilder im Kopf. Selten stellen sie sich dabei ein behäbiges und ruhiges Rentnerpaar vor. Und doch leiden auch Seniorinnen unter Angriffen ihrer Partner. Rund 290.000 Frauen auf den Balearen haben laut Statistik bereits Gewalt erlebt, zehn Prozent von ihnen sind über 65.

Der Geograf Ferran Lluch hat für die Balearen-Universität (UIB) die Zahlen zum Thema häusliche Gewalt bei Seniorinnen in Spanien und auf den Balearen analysiert. Zehn Prozent der Frauen über 65 in Spanien geben an, in den vergangenen zwölf Monaten von ihren Partnern angegriffen worden zu sein. Dabei gibt es verschiedene Formen von Attacken, sei es körperlich, sexuell, psychisch oder ökonomisch. „Das Problem ist, dass viele nur an körperliche oder sexuelle Angriffe denken und sich das bei älteren Männern nicht vorstellen können“, sagt Lluch. „Aber auch ständige Beleidigungen oder die Kontrolle über eine Person sind Gewalt.“ Ökonomisch setzen Männer ihre Frauen unter Druck, indem sie ihnen beispielsweise den Zugang zum Konto verwehren. Gerade bei älteren Personen gibt es häufig ein Ungleichgewicht im Verdienst, was zu dieser Form von Aggression führen kann.

Spanien: Auch ältere Frauen werden von ihren Partnern und Expartnern ermordet

Wobei auch körperliche Attacken mit dem Alter nicht aufhören müssen. „Manche Frauen hoffen viele Jahre lang, dass der Täter mit dem Alter milde wird, aber dann endet ihr Leiden erst mit dem Tod des Mannes“, sagt Lluch. Oder mit dem Tod der Frau. Fünf der 44 Frauen, die 2021 in Spanien von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet wurden, waren älter als 61. Das sind mehr als zehn Prozent der Fälle. Drei waren sogar älter als 71. Auch Vergewaltigungen kommen noch im hohen Alter vor.

Die Dunkelziffer im Bereich der häuslichen Gewalt ist ohnehin nicht zu unterschätzen, bei älteren Frauen könnte sie sogar noch höher sein. Im Vergleich zu jüngeren Frauen bleiben Rentnerinnen laut Lluchs Zahlen häufiger mit den Tätern zusammen. So geben zehn Prozent der Rentnerinnen an, emotionale Angriffe von ihrem aktuellen Partner erlebt zu haben. 4,4 Prozent erzählen davon, sexuelle oder körperliche Gewalt erlitten zu haben. Zum Vergleich: Bei Frauen unter 65 sind nur 2,6 Prozent körperlich oder sexuell von ihrem aktuellen Partner angegriffen worden.

Ältere Frauen sind oft von ihren Männern abhängig

Frauen über 65 suchen sich auch seltener Hilfe bei offiziellen Stellen oder Freunden. Lluch vermutet, dass das zum einen an der früheren Erziehung der Seniorinnen liegt. „Ihnen wurde beigebracht, dass sie sich um ihren Mann, die Kinder und den Haushalt kümmern müssen. Dass sie selbst nicht wichtig sind.“ Gleichzeitig seien sie mit dem Gedanken aufgewachsen, dass Trennungen und Scheidungen etwas Schlimmes seien. Sie hätten die Angriffe viele Jahre ertragen, sich daran gewöhnt. „Sie denken teilweise, es sei normal oder sogar ihre Schuld, wenn ihr Mann ihnen gegenüber aggressiv wird“, sagt Lluch.

Ein weiterer Grund, weswegen gerade ältere Frauen es nicht wagen, sich von ihren gewalttätigen Männern zu trennen, ist die finanzielle Abhängigkeit. Viele haben selbst kaum oder gar nicht gearbeitet, weil sie sich um Kinder und Haushalt gekümmert haben. Ihnen gehört nicht die Immobilie, in der sie wohnen, sie haben kaum Rente und wenig Bildung. Sie haben Angst, ihren sozialen Status, ihren Freundeskreis zu verlieren, wenn sie ihren Mann anzeigen und ausziehen. „Sie fragen: Wohin soll ich denn überhaupt gehen?“, sagt Lluch. Viele sähen den einzigen Weg darin, ihr Martyrium weiter zu ertragen. „Aber das können wir als Gesellschaft doch nicht tolerieren“, sagt Lluch, „dass Frauen ihr Leben lang leiden.“

Häusliche Gewalt: Für viele Seniorinnen ist die Opferrolle mit Scham verbunden

Was also tun? Wenn die Seniorinnen sich selbst keine Hilfe suchen, ist es schwierig, die Opfer zu finden. Die Pädagogin Carmen Orte von der Balearen-Universität hat deswegen zusammen mit der Psychologin Lidia Sánchez-Prieto eine Studie am Beispiel der Gemeinde Calvià im Südwesten der Insel gemacht. Die beiden Frauen wollten herausfinden, wie öffentliche Stellen ermitteln können, ob eine Seniorin Hilfe braucht. In ihrer Studie erklärten sie, es sei ein Problem, dass Ehepaare häufig zusammen zum Arzt gingen und auch sonstige Behördengänge gemeinsam machten. Daher sollten gerade Ärzte die Frauen getrennt in ihre Behandlungsräumen einladen, damit die Seniorinnen die Chance haben, ihnen vom Missbrauch zu erzählen.

Außerdem sollten sie nur vorsichtige Fragen stellen, da viele Seniorinnen nicht gern von ihren Problemen zu Hause sprechen. Die Opferrolle sei mit Scham verbunden. „Es sollte weniger wirken wie eine Einmischung ins Privatleben und mehr wie Sorge um die gesundheitlichen Aspekte“, heißt es in der Studie. In ihrer Arbeit stellen die beiden Frauen fest, dass Behördenmitarbeitern und Ärzten ein Protokoll an die Hand gegeben werden müsste, das ihnen hilft, Fälle von häuslicher Gewalt bei Seniorinnen zu entdecken.