Das Gefängnis in Palma kann ein Ort internationaler Begegnungen sein. Im Frühjahr trafen dort während ihrer Zeit in Untersuchungshaft die sogenannten Kegelbrüder – 13 junge deutsche Männer, denen schwere Brandstiftung vorgeworfen wird, was sie bestreiten – auf eine weitere Gruppe junger Männer, die im Gefängnis zusammenhält. Es sind 21 Marokkaner, die wegen einer seltenen und auch seltsam anmutenden Straftat angeklagt sind: "Sedición", zu Deutsch Aufruhr, Aufstand oder Rebellion. Grund dafür ist eine fast filmreife Aktion, mit der die Männer es schafften, auf europäischen Boden zu gelangen.

Es war der Abend des 5. November 2021. Auf einem Flug von Casablanca nach Istanbul brach ein Passagier an Bord einer Air-Arabia-Maschine plötzlich zusammen. Die Piloten entschieden sich für eine Notlandung in Palma de Mallorca.

Die Flugroute der Maschine von Air Arabia. MZ

Am Flughafen wurde der angebliche Diabetiker von einem Krankenwagen abgeholt. Eine Gruppe junger Männer nutzte die Gelegenheit, um an der Besatzung vorbei aus dem Flugzeug zu stürmen und in der Nacht zu verschwinden. Die Bilder der Marokkaner auf dem Rollfeld machten tagelang nationale und internationale Schlagzeilen. Vier der Getürmten sind bis heute untergetaucht. Die restlichen 21 wurden nach und nach in den folgenden Tagen und Monaten aufgespürt – teils auf der Insel, teils auf dem spanischen Festland.

Staatsanwaltschaft droht mit zehn Jahren Gefängnis

Ein Jahr später sitzen diese Männer immer noch in Untersuchungshaft, die Staatsanwaltschaft droht mit zehn Jahren Gefängnis wegen Aufruhr und weiterer Straftaten. Der Vorwurf: Mit ihrer Flucht hätten sie eine strategische Infrastruktur außer Kraft gesetzt und die Flugsicherheit gefährdet. Auf dem Flughafen herrschte nach der Aktion ein regelrechtes Chaos. Ankommende Maschinen mussten auf die Flughäfen von Barcelona, Ibiza, Menorca, Madrid und Valencia umgeleitet werden. Son Sant Joan musste zeitweise gesperrt werden, 27 Landungen und 20 Starts waren von der Schließung betroffen.

Die Untersuchungsrichterin, die über den Verbleib in der U-Haft entscheidet, sieht Anzeichen dafür, dass die Aktion von langer Hand geplant war. Die Marokkaner selbst behaupten, spontan losgelaufen zu sein, als das Flugzeug stand, da ihr Ziel ohnehin die Einreise in die EU war. 

Ähnlich wie zeitweise im Fall der Kegelbrüder, die ihre Unschuld beteuern und inzwischen in Deutschland auf einen Gerichtstermin oder eine außergerichtliche Einigung warten, könnte der Eindruck entstehen, dass hier ein Exempel statuiert werden soll: gegen vermeintliche Partyexzesse einerseits, gegen Störungen des Flugverkehrs andererseits.

Beamte der Guardia Civil bewachen, nach der Massenflucht, die notgelandete Air-Arabia-Maschine. DM

Das glaubt im Fall de Marokkaner auch der Anwalt Bartomeu Vidal. Er vertritt einen jungen Mann Anfang 20, den die Polizei kurz nach dem Flughafen-Coup in Sa Pobla festnahm. Mit dem schweren Vorwurf des Aufruhrs und dem damit einhergehenden Strafmaß solle ein Zeichen gesetzt werden, damit keine weiteren Migranten auf die Idee kommen, eine solche Aktion zu wagen. Für eine simple illegale Einwanderung komme sonst niemand ins Gefängnis. Das Schlimmste, das passieren könne, sei eine Abschiebung, sagt Vidal. 

Der Coup könnte von langer Hand geplant worden sein

Neben des Aufruhrs beschuldigt die Untersuchungsrichterin die Männer der Begünstigung der illegalen Einwanderung sowie der Nötigung. In ihrer Argumentation spielt eine wichtige Rolle, dass es sich um eine organisierte Aktion gehandelt haben könnte. Der Mann, der während des Flugs angeblich einen diabetischen Anfall erlitt, wurde vom Krankenhaus Son Llàtzer, in das er gebracht worden war, kurz darauf wieder entlassen und später festgenommen. Laut einem im Gefängnis erstellten ärztlichen Gutachten ist er gar kein Diabetiker. Auch die zwei Passagiere, die sich als Ärzte zu erkennen gaben und dem Bordpersonal der Air-Arabia-Maschine zur Notlandung rieten, weil Lebensgefahr bestünde, sollen gar keine richtigen Ärzte, sondern vielmehr Komplizen gewesen sein. 

Wie die Passagiere aus dem Flugzeug auf Mallorca flohen

Wie die Passagiere aus dem Flugzeug auf Mallorca flohen DM

Ebenfalls als Hinweis auf die Vorsätzlichkeit der Flucht wertet die Untersuchungsrichterin eine Veröffentlichung bei Facebook etwa fünf Monate vor der Notlandung. Darin ist die Rede von einem ganz ähnlichen Coup, um illegal nach Europa einzureisen. 

Illegale Einwanderung oder "Aufruhr"?

Für Anwalt Vidal jedoch ist all dies zweitrangig. „ Egal, ob es sich um einen medizinischen Notfall handelte, oder ob der Pilot reingelegt wurde – der Straftatbestand des Aufruhrs ist in keinem Fall gegeben“, argumentiert er. Dass dieser Vorwurf aufrechterhalten wird und die Männer in Untersuchungshaft verbleiben müssen, ist für ihn ein Justizskandal. „Das ist der haarsträubendste Fall, den ich je gesehen habe“, sagt er. Trotzdem interessiere sich die Öffentlichkeit nicht dafür. „Liegt das vielleicht daran, dass sie Araber sind?“, fragt er. 

Die Herkunft der 21 Männer spielt aber auch noch in anderer Hinsicht gegen sie, wie ein weiterer ihrer Anwälte, José Ignacio „Chiqui“ Herrero, erklärt. Die Untersuchungshaft werde auch mit dem Verweis auf die Gefahr begründet, dass sie nach ihrer Freilassung auf Nimmerwiedersehen verschwinden könnten. Die Kegelbrüder hingegen konnten als EU-Bürger eine feste Verwurzelung in Deutschland nachweisen und obendrein 500.000 Euro als Solidarhaftung zusammentragen. 

Trotzdem sieht auch Herrero die Anklage wegen Aufruhrs und damit die lange Untersuchungshaft nicht als gerechtfertigt. Sein Mandant habe schließlich nur ein besseres Leben gesucht. „Dann müsste ja jeder Bootsmigrant auch für zehn Jahre ins Gefängnis“, argumentiert der Anwalt. „Hier sollen andere abgeschreckt werden und das ist keine legale Basis für eine Untersuchungshaft.“

Zwei der Flughafen-Migranten bei einer Haftvorführung in Palma. B. Ramon

Wie lange es bis zum Gerichtsverfahren braucht, ist unklar. Es kann gut sein, dass die Gruppe noch ein ganzes Jahr, vielleicht auch noch länger in Untersuchungshaft verbringt. Bartomeu Vidal hofft auf einen Deal mit der Staatsanwaltschaft. „Die Anklage wird zu vielem bereit sein, solange sie ihren Vorwurf der Aufruhr beibehalten kann“, sagt er. 

Kegelbrüder und Marokkaner unterstützten sich gegenseitig im Gefängnis

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Bis dahin verbleiben die 21 Marokkaner im Gefängnis. Sie sollen dort gut zusammenhalten und freundlich und hilfsbereit auftreten. Die Deutschen und Marokkaner lernten sich im Frühjahr auch persönlich kennen, manche von ihnen teilten sich eine Zelle. Man unterhielt sich, radebrechte auf Englisch, schnitt sich gegenseitig die Haare, spielte Fußball miteinander, half sich. Die einen konnten auf die massive Unterstützung von Medien, Kirchen und Konsulat rechnen, die anderen nicht. Die einen hatten im Gefängnis genügend Geld, die anderen hatten kaum wen, der sie finanziell unterstützen konnte. Die einen konnten das Gefängnis nach zwei Monaten verlassen, die anderen werden dort womöglich noch Jahre verbringen.