Junger Marokkaner, der den Flughafen-Coup auf Mallorca verursachte: "Ich bin ein Opfer"

Ein Interview mit Yassine Jaouhari, der an Bord einer Maschine auf dem Weg von Casablanca nach Istanbul eine akute Überzuckerung erlitten haben will

Yassine Jaouhari beim Interview.

Yassine Jaouhari beim Interview. / DM

Marcos Ollés

Der Fall sorgte international für Aufsehen: Am 5. November 2021 musste ein Flugzeug von Air Arabia auf dem Flughafen Son Sant Joan auf Mallorca zwischenlanden, das von Casablanca auf dem Weg nach Istanbul war. Die Ursache: Ein Passagier gab an, sich aufgrund einer Diabetes-Erkrankung schlecht zu fühlen. Am Flughafen wurde der angebliche Diabetiker von einem Krankenwagen abgeholt. Eine Gruppe junger Männer nutzte die Gelegenheit, um an der Besatzung vorbei aus dem Flugzeug zu stürmen und in der Nacht zu verschwinden

Der Mann, der vorgab, an Diabetes zu leiden - was Ärzte auf Mallorca bezweifeln -, ist Yassine Jaouhari. Der 25-jährige Marokkaner kam nach 14 Monaten Untersuchungshaft im Januar 2023 frei. Den Tatbestand des Aufruhrs, der bis zu 15 Jahre Haft hätte nach sich ziehen können, gibt es seit einer Reform des spanischen Strafgesetzbuches nicht mehr. Dennoch drohen Jaouhari dreieinhalb Jahre Gefängnis, unter anderem wegen der Förderung illegaler Einwanderung. Das "Diario de Mallorca" hat den jungen Mann zum Interview empfangen.

Waren Sie zuvor schon einmal in Spanien?

Ja, ich kam 2016 nach Madrid. Dort lebte ich vier Jahre lang bei meiner Schwester und kehrte am 18. November 2020 nach Marokko zurück. In Palma war ich zuvor noch nie.

Warum saßen Sie in dem Flugzeug?

Ich wollte in die Türkei fliegen. Ich war schon mehrmals dort, ich kann es mit den Stempeln in meinem Pass beweisen. Ich wollte eine Zeit lang dort bleiben, ich hatte keinen festen Plan.

Kannten Sie andere Passagiere im Flugzeug?

Nein, ich war allein unterwegs.

Was wissen Sie noch über die Ereignisse an Bord?

Ich erinnere mich an gar nichts. Von den Leuten, die über das Rollfeld rannten, kannte ich niemanden. Auch an den jungen Mann, der mich ins Krankenhaus begleitete, kann ich mich nicht mehr erinnern. Die Ärzte sagen, dass es mir sehr schlecht ging. Deshalb bat der Pilot um eine Notlandung in Palma.

Aus den Arztberichten des Krankenhauses Son Llàtzer geht aber hervor, dass Sie bei Ihrer Ankunft im Krankenhaus keineswegs schwer krank waren.

Das ist eine Lüge. Ich war zweieinhalb Stunden im Krankenhaus. Mein Herz raste, ich war krank. Wenn es nichts Ernstes war, warum haben die Ärzte im Flugzeug den Piloten dann dazu gedrängt, sofort zu landen? Das war kein Blödsinn, mein Leben war in Gefahr. Das haben die Leute ausgenutzt, um aus dem Flugzeug zu fliehen.

Im Krankenhaus wurden Sie von der Polizei festgenommen.

Ja, die Polizei kam dann. Ich wusste nicht, was auf dem Flughafen passiert war. Ich schwöre bei Gott, ich wusste nichts. Sie holten mich ab und brachten mich zur Polizeistation am Flughafen. Der Polizeichef hat mich beschimpft und man hat mich zum Polizeipräsidium in Palma gebracht. Dort wurde ich ganz normal behandelt. Um ein Uhr morgens fühlte ich mich wieder krank und ein Arzt musste ins Gefängnis kommen, um mein Herz zu untersuchen. Sie gaben mir eine Tablette, die mir der Arzt in Marokko gegen Diabetes verschrieben hatte. Ich war drei Tage lang im Gefängnis.

Ihre Version ist, dass Sie im Flugzeug eine akute Überzuckerung erlitten haben, aber davon ist in den Akten zum Gerichtsverfahren nicht die Rede...

Die Ärzte in Marokko sind nicht so spezialisiert wie in Spanien. Sie sagten mir, dass ich Diabetes habe und dass mein Blutzucker stark ansteigt, wenn ich nervös werde.

Sie wurden dann der Justiz überstellt.

Am 8. November wurde ich der Richterin vorgeführt. Kein einziger der festgenommenen Passagiere hat eine Aussage gemacht. Nur ich. Ich sagte ihr, dass ich keinen der Menschen kenne, die aus dem Flugzeug geflohen waren, und dass ich auch nichts über die Facebook-Gruppe oder irgendetwas anderes wüsste. Ich habe in Alcalá de Henares gelebt. So etwas könnte ich Spanien doch nicht antun. Ich liebe Spanien genauso wie Marokko. Die Richterin fragte mich dann noch, warum ich kein Insulin nehme, wenn ich Diabetiker sei. Ich weiß es nicht, ich bin kein Arzt.

Sie hat Ihnen nicht geglaubt und Sie in Untersuchungshaft geschickt. Wie war Ihre Zeit dort?

Ich war 14 Monate lang für nichts im Gefängnis. Für nichts. Ich war vorher nie im Gefängnis gewesen. Die Beamten waren sehr nett zu mir. Ich habe dort gearbeitet, meine Familie hat mir Geld geschickt. Einmal hatte ich ein Problem mit einem anderen Gefangenen, einem Marokkaner, der mir auf die Nase schlug. Er hatte sich abfällig über Mohamed VI, den König von Marokko, geäußert und ich habe den König verteidigt. Das war am 22. Dezember 2022, man musste mich ins Krankenhaus bringen.

Wussten Sie, dass es, wie die Staatsanwaltschaft behauptet, einen über Facebook organisierten Plan gab, um das Flugzeug umzuleiten und irregulär nach Europa zu gelangen?

Davon weiß ich nichts. Es ist nicht meine Schuld, dass das passiert ist. Ich habe nie daran gedacht, Spanien anzugreifen. Es ist alles eine Lüge. Die Polizei nahm mein Handy mit, überprüfte es und fand überhaupt nichts. Ich bin nicht gefährlich.

Haben Ihnen die marokkanischen Behörden in dieser Zeit geholfen?

Überhaupt nicht. Ich habe an das marokkanische Konsulat in Palma geschrieben, aber man gab mir nicht einen Euro, um ein Brot zu kaufen. Ich habe mich auch mit der Botschaft in Verbindung gesetzt, aber habe keine Antwort bekommen.

Sie wurden des Aufruhrs beschuldigt, ein Tatbestand, der mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft werden konnte. Eine Gesetzesänderung kam ihnen nun zugute.

Ich war sehr bestürzt, als ich hörte, dass sie so viele Jahre Gefängnis fordern. Von einer Gesetzesänderung ist mir nichts bekannt. Ich bin ein Opfer, es ist die Schuld der Polizei, denn es gab keine Sicherheitsvorkehrungen am Flughafen, um die Flucht zu verhindern.

Wann wussten Sie, dass Sie entlassen werden würden?

Erst am Tag der Entlassung selbst, am 17. Januar. Ich konnte es nicht glauben, ich war sehr glücklich. Am Nachmittag kam ein Justizbeamter, um uns mitzuteilen, dass wir frei sind, was wir nicht erwartet hatten. Ich nahm meine Taschen und ging hinaus. Ich hatte nichts getan. In Madrid habe ich als Wachmann auf einer Baustelle gearbeitet und hatte nie irgendwelche Probleme. Ich bin ein Opfer des Flüchtlings-Flugzeugs. Wenn ich gewusst hätte, dass ich im Gefängnis landen würde, hätte ich das Flugzeug nicht genommen. Aber am Ende bin ich frei, Gott ist großartig.

Sie waren im Gefängnis mit vielen der Passagiere, die aus dem Flugzeug geflohen sind, zusammen. Hatten Sie mit ihnen zu tun?

Ich habe mit keinem von ihnen gesprochen. Sie waren schuld daran, dass ich im Gefängnis war, ohne sie wäre ich nicht hinter Gitter gekommen. Ihretwegen starb mein Vater am 30. Dezember, er litt sehr unter meiner Situation. Meine Großmutter starb ebenfalls im März 2022.

Was haben Sie nach Ihrer Freilassung gemacht und welche Pläne haben Sie jetzt?

Auf Mallorca kenne ich niemanden. Ich lebe zurzeit in einem Hostel, das mich 20 Euro am Tag kostet. Jetzt darf ich nach Madrid reisen, dort kann ich bei meiner Schwester wohnen. Bis zum Prozess wird es noch dauern.