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Deutschen Urlaubern wäre das nicht passiert: Bekannte Aktivistin wirft Seenotrettung Rassismus im Umgang mit ertrunkenen Migranten vor

Fünf an der Küste angespülte Leichen binnen weniger Tage – vermutlich handelt es sich um Migranten. Die Aktivistin Helena Maleno wirft den Behörden Untätigkeit vor

Beamte entfernen die an der Playa de Palma gefundene Leiche.

Beamte entfernen die an der Playa de Palma gefundene Leiche. / B. Ramon

Ralf Petzold

Ralf Petzold

Das Meer hat in den vergangenen zwei Wochen fünf Leichen an die Strände Mallorcas gespült. Die Polizei geht davon aus, dass es sich bei den Toten um ertrunkene Migranten handelt, die mit dem Boot von Algerien übersetzen wollten. Diese Menschen hätten vielleicht gerettet werden können, sagt Helena Maleno, Gründerin und Sprecherin der seit Jahren in der Flüchtlingshilfe tätigen NGO Caminando Fronteras.

Wieso werden gerade so viele Leichen an den Inselstränden angespült?

Auf der Migrationsroute von Algerien zu den Balearen verschwinden immer wieder Boote. Das ist die Realität. Dass die Leichen nun angespült werden, bedeutet, dass die Schiffe in Küstennähe gekentert sind. Seit geraumer Zeit prangern wir an, dass die Seenotrettung in diesen Gebieten verstärkt suchen muss. Das ist aber nicht der Fall. Wenn die Boote vom Kurs abkommen und niemand sie sucht, sterben die Menschen. In anderen Regionen Spaniens werden Flugzeuge und Hubschrauber losgeschickt, nur auf den Balearen nicht.

Wer ist dafür verantwortlich?

Die spanischen Behörden sind dafür zuständig, Menschenleben auf hoher See zu retten. Die Seenotrettung wird vom Verkehrsministerium koordiniert. Das reagiert aber unterschiedlich, wenn wie vor anderthalb Jahren zwei deutsche Segler vermisst werden oder wenn jetzt somalische Bootsflüchtlinge verschollen sind. Wir reden hier nicht von Migration, sondern davon, Leben zu retten.

Die deutschen Segler wurden tagelang mit allen möglichen Mitteln gesucht …

Zuletzt gab es einen Fall, dass ein leeres Kajak gesichtet wurde. Die Seenotrettung schickte Flugzeuge, Hubschrauber, Schiffe. Am Ende war der Kajakfahrer aber nur am Tauchen.

Was passiert, wenn Sie die Seenotrettung über ein Flüchtlingsboot informieren?

Auf den Balearen werden wir wie Verbrecher behandelt. Auf den Kanaren nimmt die Guardia Civil alle Informationen auf, hier nicht. Ich habe keine Ahnung, warum das so ist. Die Inselbehörden legen einfach auf, wenn wir anrufen oder sagen: Schreibt doch eine Mail. Sie selbst rücken keine Informationen raus. Manchmal werden wir auch beleidigt.

Die Polizei transportiert die Überreste an der Playa de Palma ab.

Die Polizei transportiert die Überreste an der Playa de Palma ab. / Ramon

Wie erfahren Sie von den Flüchtlingsbooten?

Seit 2007 haben wir eine Notfallnummer. Das kam eher zufällig und war nicht geplant. Mich rief ein Junge an, der gerade Richtung Almería unterwegs war. Er berichtete, dass das Boot gerade unterging. Ich googelte die Seenotrettung und alarmierte die Behörden. Im Anschluss dachte ich: „Bitte, lass das den letzten solchen Anruf gewesen sein.“ Es sprach sich aber herum, dass wir den Leuten helfen, und das Telefon klingelte immer wieder. Die Migranten schrecken oft vor einem Anruf bei den Behörden zurück. Da wüssten sie nicht, ob die Polizei sie lieber tot oder lebendig sehen will, sagen sie. 2014 kamen noch die Anrufe von Familien hinzu, die Angehörige vermissen. Wir führen Listen der Verschollenen und gleichen sie mit den Daten der Behörden ab.

Die Leiche am Montag an der Playa de Palma war stark verwest. Ist die Identifizierung des Verstorbenen da überhaupt möglich?

Jeder Fall ist unterschiedlich. Wir raten den Familien immer, eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Denn wenn Ihr Opa mit Alzheimer verschwindet, wenden Sie sich auch an die Polizei und nicht an eine NGO. Da sind wir wieder bei dem gleichen Punkt: Alle Menschenleben sind wichtig. Es steht immer eine Familie dahinter. Da ist es egal, ob die Person bei einem Grenzübertritt verschwunden ist. Leider weigert sich die spanische Polizei manchmal, die Vermisstenmeldung zu erstellen oder DNA-Proben für einen Abgleich anzunehmen. Manche Familien müssen verschiedene Wachen abklappern, ehe sie Gehör finden.

Im Jahresbericht 2024 Ihrer NGO heißt es, es gebe ein regelrechtes Geschäft bei der Identifizierung der Leichen.

Es sind ungeheuer viele Familien, die ihre Angehörigen suchen. Ich habe Listen von Dörfern in Mali gesehen, wo Hunderte junge Männer verschollen sind. Wenn die Leute von den Behörden keine Hilfe bekommen, öffnet das Betrügern Haus und Hof. Viele Angehörige sagen, dass sie zahlen würden, um Informationen zu erhalten. „El País“ berichtete kürzlich über ein von der Polizei hochgenommenes kriminelles Netzwerk. Die 14 Festgenommenen waren Spanier, darunter Gerichtsmediziner und Angestellte von Bestattungsfirmen. Sie nutzten die Not der Familien aus.

Helena Maleno gründete vor 20 Jahren die NGO Caminando Fronteras. | FOTO: PRIVAT

Helena Maleno gründete vor 23 Jahren die NGO Caminando Fronteras. | FOTO: PRIVAT / Sophie Mono

Laut Ihren Daten sind 2024 auf den Mittelmeer-Routen 517 Personen gestorben. Wie kommen Sie auf diese Zahlen?

Wir haben bestätigte Todesfälle und vermisste Personen, die sicher gestorben sind, zusammengezählt. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen. Wir untersuchen manche Fälle von verschollenen Flüchtlingsbooten noch.

Wie viele Boote auf der Balearen-Route werden derzeit vermisst?

Seit Dezember haben wir Kenntnis von sechs Booten mit insgesamt 85 Personen an Bord. Darunter sieben Frauen und sieben Kinder. Sie kommen aus Subsahara-Afrika – unter anderen Somalia, Mali, Jemen, Sudan. Das sind Migranten, die seit 2024 verstärkt hinzugekommen sind. Sie flüchten aus Libyen oder Tunesien, wo es zuletzt eine regelrechte Verfolgung dunkelhäutiger Menschen gab. Viele wurden in der Wüste ausgesetzt. Sie machten sich dann auf den Weg nach Algerien.

Geben die Migranten Bescheid, wenn sie mit dem Boot in See stechen?

Nein. Die meisten Familien melden sich ein oder zwei Wochen später bei uns. Auf hoher See gibt es kein Netz. Von Notfällen erfahren wir also nur, wenn das Boot schon in Küstennähe ist. Dann herrscht Panik vor. Migranten aus Mali sehen meist das erste Mal das Meer und können überhaupt nicht schwimmen.

Die Balearen-Route gilt als eine der gefährlichsten Spaniens. Warum ist das so?

Früher war Almería noch das am meisten angesteuerte Ziel. Es liegt noch näher an Algerien. Dort gehen die Behörden aber verstärkt gegen illegale Einwanderung vor. Die Migranten nehmen nun längere und gefährlichere Strecken in Kauf. Wenn die Bootsführer nur wenig Erfahrung haben, driften sie vom Kurs ab. Und dann landen sie statt auf den Balearen irgendwo im Mittelmeer.

Ist der Winter nicht der ungünstigste Zeitpunkt für die Überfahrt?

Die Leute, die aus anderen Ländern nach Algerien fliehen, sind in einer so großen Notlage, dass sie nicht zwischen Sommer und Winter unterscheiden. Sie wollen einfach weg.

Spanien arbeitet daran, die diplomatischen Beziehungen zu Algerien zu verbessern und könnte diese Migranten bald wieder zurückführen. Würde so das Problem gelöst?

In erster Linie ist es wichtig, die Rettungseinsätze zu koordinieren. Damit auch wirklich nach den Booten gesucht wird, wenn sie in Seenot geraten. Spanien lässt diese Menschen derzeit sterben. Ich habe wenig Hoffnung, dass sich etwas ändert. Beim Thema Abschiebung wäre die Frage, was mit den Flüchtlingen aus anderen Ländern passiert.

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