Euphorie, das war es, was Werner Ruf bei seinen ersten Algerien-Aufenthalten auf den Straßen wahrnahm. Euphorie darüber, dass die blutigen Unabhängigkeitskämpfe vorüber waren. Dass rund eine Million Menschen ihr Leben nicht ganz umsonst verloren hatten. Dass das nordafrikanische Land seit 1962 nicht mehr zu Frankreich gehörte. Für den inzwischen 83-jährigen Friedensforscher ist diese Zeit des Aufbruchs lange her. Für die junge Generation Algerier dagegen, die heute in dem Land am südlichen Mittelmeer lebt, gehört diese Zeit einer längst vergangenen Epoche an.

Was heute in Algerien vorherrscht, ist Frust, Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit. Werner Ruf war seit zehn Jahren nicht mehr selbst in Algerien – aufgrund seiner kritischen Beobachtungen bekommt der emeritierte Professor für Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik schon lange kein Einreisevisum mehr, ähnlich wie viele Journalisten. Doch der Nordafrika-Experte verfolgt die Entwicklungen aus der Ferne. „Die Leute haben das Gefühl, dass ihr Leben dort keinen Sinn macht.“ Diese Beobachtung bestätigt auch Haizam Amirah Fernández vom spanischen Forschungsinstitut Elcano in Madrid. „Es fehlt den Menschen an Freiheit, an Aussichten auf Besserung, an Möglichkeiten.“

Die Hirak-Bewegung ist mittlerweile weitgehend handlungsunfähig. DOUDOU/AP

Die Konsequenz: Junge Algerier – vor allem Männer – verlassen das Land in Scharen. Allein zwischen Januar und September dieses Jahres emigrierten mehr als 10.700 Personen nach Spanien, die meisten setzten von West-Algerien nach Andalusien über. Hinzu kommt die Dunkelziffer der Menschen, die bei den gefährlichen Überfahrten über das Mittelmeer ertrinken oder seitdem verschollen sind. 1.819 Menschen aus Algerien erreichten in diesem Jahr bisher Mallorca oder die Nachbarinseln, täglich werden es mehr. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2019 waren es 507. Dabei spielen sich oft Dramen ab: Am Montag (4.10.) sank ein Boot vor Cabrera, drei Insassen werden vermisst.

Jung, arm, ungehört

Um zu begreifen, was die jungen, oft gut ausgebildeten Männer dazu treibt, ihr Leben aufs Spiel zu setzen und die knapp 280 Kilometer lange Überfahrt auf sich zu nehmen, braucht es einen genaueren Blick auf das afrikanische Land. Gut 44 Millionen Menschen leben in dem flächenmäßig größten Staat des afrikanischen Kontinents. Der Großteil drängt sich im Norden, der weitflächige Süden Algeriens dagegen ist nur dünn besiedelt und wird von den Wüstenregionen der Sahara dominiert. Die Menschen sind jung: 30 Prozent der Bevölkerung sind noch keine 15 Jahre alt, nur knapp sieben Prozent sind älter als 64. Die Wirtschaft basiert auf der Förderung und dem Export von Erdöl und Erdgas – und steckt wegen der lange Zeit niedrigen Preise in der Krise. Die Arbeitslosigkeit, gerade unter den vielen jungen Menschen, ist enorm: Selbst mit Hochschulabschluss findet nur etwa jeder zweite eine Anstellung. „Oft leben vier oder fünf Menschen auf 20 Quadratmetern zusammen. Sie haben keine Einkünfte, sie haben nichts zu tun“, so Werner Ruf.

Und die Regierung? Hat andere Interessen, als die offensichtlichen Missstände im Land zu beseitigen. „Außer dass das Wort Demokratie im offiziellen Namen der Volksrepublik auftaucht, hat das Land nur wenig mit Demokratie zu tun“, sagt Haizam Amirah Fernández. Die Militärs, einst durch die Unabhängigkeitskämpfe erstarkt, sind die treibende Kraft. „Sie haben bis heute die Fäden in der Hand“, so Ruf. Sie und die alten Eliten, Familienclans, die einen Großteil der Gewinne aus der Öl- und Gasgewinnung unter sich aufteilen.

Dass die Politiker kaum auf die Stimme des Volkes hören, zeigt die Präsidentschaft von Abdelaziz Bouteflika. Trotz jahrelanger schwerer Krankheiten und einem Schlaganfall wollte sich Bouteflika nach 20 Jahren im Amt zum fünften Mal erneut zur Wahl stellen – obwohl er schon lange kaum noch öffentliche Auftritte wahrnehmen konnte. Ein trauriges Sinnbild für die wahren Machtverhältnisse im Land, das Anfang 2019 mehrere Millionen von Algeriern dazu bewegte, auf die Straße zu gehen.

Die Freitagsdemonstrationen

Es war die Geburtsstunde der Hirak-Bewegung. Die alte Euphorie aus den 60ern war wohl nicht zu spüren, wohl aber eine gewisse Hoffnung auf Wandel. Endlich, so dachten viele, könnte ihre Stimme gehört werden. Endlich doch so etwas wie Demokratie im Land einziehen. Mehr als ein Jahr lang gingen die Menschen jeden Freitag friedlich demonstrieren. Und tatsächlich: Sie erreichten, dass Abdelaziz Bouteflika im April 2019 zurücktrat. Doch sein Nachfolger Abdelmadjid Tebboune dämpfte die Hoffnung auf Reformen. Corona machte der Hirak-Bewegung (übersetzt: Volksbewegung) endgültig den Garaus. Zusammenkünfte wurden verboten, die Bewegung ausgebremst. „Mittlerweile ist sie weitgehend handlungsunfähig“, so Werner Ruf. Zwar kommen inzwischen wieder Menschen auf den Straßen zusammen. Doch der neue Präsident schlägt die Proteste mit aller Härte nieder. Aktivisten und Journalisten werden inhaftiert, Zusammenkünfte im Keim erstickt. Auch die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ beklagte im Sommer „eine Verschärfung der Angriffe auf die Presse in den vergangenen drei Monaten und das repressive Vorgehen der algerischen Behörden“.

Durchkommen oder sterben

Das Resultat ist eine Bevölkerung, die nichts mehr zu verlieren hat. „Es ist eine wahre Brutstätte der Frustration“, so Amirah Fernández. Einige der aufgebrachten Bürger radikalisieren sich, schließen sich im schlimmsten Fall islamistischen Terror-Gruppierungen auf dem afrikanischen Kontinent an. Andere verlassen das Land gen Europa und hoffen dort auf einen Neuanfang – ungeachtet dessen, dass die Überfahrt nach Spanien nicht nur illegal, sondern auch gefährlich ist. „Die Alternativen sind Durchkommen oder Sterben. Aber viele sehen es so, dass sie ohnehin kein Leben haben, wenn sie in Algerien bleiben“, so Werner Ruf. Auch das Risiko der Abschiebung nehmen viele in Kauf. „Wenn sie in ihre Heimat zurückgeschickt werden, versuchen sie es eben wieder“, so Ruf. Schlepperbanden und kriminelle Organisationen haben den Auswanderungsdrang längst als lohnendes Geschäft für sich entdeckt und befeuern die Träume der jungen Männer.

Dass es die meisten gen Frankreich und Belgien zieht und sie Spanien nur als Sprungbrett in die EU sehen, liegt auf der Hand: Französisch ist zwar nicht mehr Amtssprache, dennoch gilt Algerien als das Land mit den meisten Französischsprechenden außerhalb Frankreichs. Staatliche Fernsehsender strahlen Nachrichten und Dokus auch auf Französisch aus; im staatlichen Hörfunk ist eines der drei Hauptprogramme auf Französisch. Fast alle Algerier beherrschen die Sprache mehr oder weniger fließend. Und dann sind da noch die persönlichen Kontakte, Freunde oder Bekannte, die in Frankreich leben – und beim Start in das neue Leben helfen können. „Das Verhältnis zu Frankreich ist aufgrund der Geschichte ambivalent, aber viele sehen, dass ihre Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben dort höher sind“, so Ruf.

Der Experte glaubt nicht, dass der Auswanderungsdrang in Algerien in den kommenden Jahren nachlassen wird. Zumal die algerische Regierung derzeit die Grenzen geschlossen hält. Abschiebungen werden so erschwert, viele Migranten von den spanischen Sicherheitskräften stattdessen laufen gelassen. „Das algerische Regime trauert denen, die das Land verlassen, nicht nach. Obwohl darunter oft gut ausgebildete und kluge Menschen sind“, bewertet der Politikprofessor. Schließlich ist man so auch Arbeitslose und vor allem kritisch denkende Bürger los. Ein Zugewinn an Stabilität also – zumindest für die Machthaber.

Deutsche Waffen an das Regime

Sowohl Werner Ruf als auch Haizam Amirah Fernández vom Madrider Forschungsinstitut Elcano sind sich einig: Auch der EU komme es letztlich vor allem darauf an, die vermeintliche Stabilität in Algerien aufrechtzuerhalten. „Die europäische Politik ist ganz klar darauf ausgelegt, den Status quo in Algerien aufrechtzuerhalten – auch wenn das bedeutet, ein autoritäres Regime zu unterstützen“, so Amirah Fernández. Mehr noch: Letztlich stünden auch ganz klare Gewinnabsichten im Vordergrund, sagt Werner Ruf. „Deutschland hat im vergangenen Jahr für fast eine Milliarde Euro Waffen an Algerien verkauft, die dort auch gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden.“ Hinzu kämen Freihandelsabkommen, die die wirtschaftliche Situation in Algerien verschärften, Europa aber zugutekämen. „Die EU-Länder verdienen unglaublich viel Geld daran, dass die Situation in Algerien so ist, wie sie ist. Man setzt förmlich auf die Repression.“

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Dabei gebe es durchaus Möglichkeiten, die schwelende Frustration und die Aussichtslosigkeit der Zivilbevölkerung zu verringern. Durch die Schaffung von Industriestandorten in Algerien etwa, durch Wirtschaftssanktionen, den Stopp von Waffenlieferungen und gezielter Entwicklungshilfe, die an politische Bedingungen geknüpft ist. Denn auch unter den alten Eliten in Algerien kriselt es, und sie sind – zumindest außenpolitisch – entsprechend verletzlich: Die niedrigen Erdölpreise verringern den sprichwörtlichen Kuchen, den die Familienclans untereinander aufteilen. Das Geld wird knapp.

Anzeichen dafür, dass die EU in den kommenden Jahren einen Kurswechsel in der Algerien-Politik fahren könnte, sehen die Experten nicht. „Und solange sich an der wirtschaftlichen und politischen Situation im Land nichts ändert, wird auch die Auswanderung andauern“, so Werner Ruf.