Entrevista | Frank Sieren Journalist

China-Experte Frank Sieren vor Mallorca-Besuch: „Andere Länder nicht zu unseren Werten zwingen“

Der Journalist und Peking-Korrespondent mahnt zu einer realistischen Haltung gegenüber China. Anfang Juni nimmt er auf Mallorca am Wirtschaftsforum „Neu Denken“ teil

Plädiert dafür, sich auf eine „neue multipolare Weltordnung“ einzustellen: Frank Sieren.   | FOTO: GREGOR KOPPENBURG

Plädiert dafür, sich auf eine „neue multipolare Weltordnung“ einzustellen: Frank Sieren. | FOTO: GREGOR KOPPENBURG / ciro Krauthausen

Ciro Krauthausen

Ciro Krauthausen

Ihr Buch „Shenzhen“ ist 2021 erschienen. Sie beschreiben darin die ungeheure Innovationskraft Chinas. Seither ist viel geschehen: der Krieg in der Ukraine, die Covid-Kehrtwende. Würden Sie es heute anders schreiben?

Nein, denn Covid hat die Innovationskraft Chinas nicht nachhaltig gebremst. Sie gibt dem Land mehr denn je die Möglichkeit, wie beim E-Auto den globalen Entwicklungstakt mitzubestimmen. Da kommt noch viel mehr.

China habe den „Corona-Crashtest mit fünf Sternen bestanden“, schrieben Sie damals. Sehen Sie das immer noch so?

Ja. Das war die erste Welle. Da gibt es keine neuen Erkenntnisse, die meine Einschätzungen relativieren würden. Den brutalen Lockdown in Schanghai 2022 muss man allerdings sehr kritisch sehen. Insgesamt sieht es derzeit jedoch so aus, als ob trotz des niedrigen Wachstums von drei Prozent die wirtschaftlichen Schäden für China kleiner sind als für den Westen: Die Inflation ist mit 2,5 Prozent niedrig geblieben, bei einem Rekordhandelsbilanzüberschuss. Die Geldreserven der Bürger sind stark gestiegen. Die des Staates sind stabil. Die Todeszahlen sind zwar nicht transparent. Aber es zeichnet sich ab, dass China deutlich weniger Corona-Tote pro Einwohner hatte als die USA.

Und die Glaubwürdigkeit des Regimes ist nicht beschädigt worden?

Doch, das Vertrauen in Peking ist bei den Chinesen so erschüttert worden wie in 30 Jahren nicht mehr. Nun muss Peking deutlich machen, dass 2022 eine Ausnahme war. China hat einen wirtschaftlichen Aufstieg hinter sich, wie es ihn in der Weltgeschichte noch nicht gegeben hat. Das gilt auch für die Hunderten Millionen Menschen, die aus der Armut befreit wurden. Wenn Peking an diese wirtschaftliche Erfolgsstory anschließen kann, ist der Vertrauensbruch noch zu kitten und das schlechte Jahr vergessen. Die Chinesen tarieren nüchtern die Vor- und Nachteile des Systems aus. Ende vergangenen Jahres haben sie sehr deutlich gemacht: Das Maß ist jetzt voll.

Stichwort Innovation: Wie weit ist China bei der künstlichen Intelligenz?

Eine australische-amerikanische Studie hat ermittelt, dass die Chinesen in 37 von 44 zentralen Technologiebereichen führend sind, darunter auch KI-Bereichen.

Das bereitet dem Westen ebenso Sorge wie die Haltung Chinas zum Krieg.

Pekings Haltung entspricht der Haltung der Demokratien Indien, Brasilien oder Südafrika. Über 170 von 194 Ländern beteiligen sich nicht an den Sanktionen gegen Russland. Die aufsteigenden Länder sind nun zum ersten Mal in der Lage, ihre Position durchzuziehen, weil sie sich zusammentun und weil sie wirtschaftlich stark und selbstbewusst sind. Die G7-Länder vertreten nur zehn Prozent der Weltbevölkerung. Die sogenannten BRICS-Länder 40 Prozent. Es macht keinen Sinn so zu tun, als sei Peking isoliert.

Das vorherrschende Narrativ ist aber nach wie vor der bipolare Konflikt USA–China.

Ja, aber gleichzeitig hat der Globale Süden nun eine eigene Mehrheit gemeinsam mit China, wie man bei den G20-Treffen deutlich sieht. Das eine schließt das andere ja nicht aus.

Setzt China die anderen nicht unter Druck?

China ist in dieser Gruppe die stärkste Macht mit 18 Prozent Anteil an der Weltwirtschaft. Gehen die Länder aus Opportunismus oder Überzeugung mit? Schwierig zu sagen. Indien oder Saudi-Arabien etwa sind nicht gezwungen, weniger mit den USA und mehr mit China zu machen. Sie können sich entscheiden. Am Ende denken diese Länder ganz einfach: Zwei Partner sind immer besser als einer.

Was halten Sie von den Versuchen des Westens, sich von China wirtschaftlich unabhängiger zu machen?

Die Vorstellung, sich mal eben von China zu entkoppeln, ist naiv. Diversifizieren hingegen ist immer sinnvoll. Aber man muss realistisch bleiben: In der Liga wie China spielt auch Indien nicht mit seinen 8,7 Prozent Anteil an der Weltwirtschaft.

Also bleibt uns nichts anderes übrig, als weiter im Geschäft und Gespräch zu bleiben. Glauben Sie denn wenigstens, dass der Überwachungsstaat eines Tages aufbrechen könnte?

Das hängt auch von unserer Überzeugungskraft ab. Wir können andere Länder nicht zu unseren Werten zwingen, wir können sie aber überzeugen. Und die Nachteile des Überwachungsstaates liegen auf der Hand.

Auf Mallorca werden Sie vor Entscheidungsträgern aus Wirtschaft und Politik sprechen. Hören die auf Sie?

Die Wirtschaft muss gar nicht auf mich hören. Sie weiß längst Bescheid. Sie lernt in dieser Hinsicht viel schneller als die Politik, weil sie per se internationaler ist. Wenn man wie Volkswagen fast 40 Jahre in China tätig ist, dann prägt das. Für die Politiker ist hingegen die Innenpolitik entscheidend, weil sie in Deutschland gewählt werden. Die Umgehungsstraße ist halt näher als Schanghai.

Volkswagen betreibt ein Werk in Xinjiang, wo die Uiguren unterdrückt werden.

Auch wenn wir noch so davon überzeugt sind, dass die Menschenrechte in Xinjiang verletzt werden, wovon ich überzeugt bin, heißt das noch lange nicht, dass sich die Dinge ändern, nur weil wir Sanktionen verhängen oder gar das Land verlassen. Wir müssen vielmehr Peking überzeugen, dass ihr Umgang mit diesen Minderheiten nicht sinnvoll ist. Dazu müssen wir die Welt aus deren Perspektive sehen lernen, um sie taktisch klug dort abzuholen, wo sie stehen. Je früher wir im Westen uns auf die neue multipolare Weltordnung einstellen, desto größer sind unsere Chancen, unsere Wertvorstellungen und Interessen in diese neue Weltordnung einzubringen.

Seit bald 30 Jahren Korrespondent in Peking

Der Journalist, Dokumentarfilmer und Autor Frank Sieren (Saarbrücken, 1967) ist einer der bekanntesten deutschen China-Experten. Er lebt seit 1994 als Korrespondent in Peking und hat bereits für viele große deutsche Medien gearbeitet. Der Autor von Spiegel-Bestsellern wie „Zukunft? China!“ oder „Shenzhen – Zukunft Made in China“ ist auch in deutschen Talkshows sehr präsent. Das Wirtschaftsforum „Neu Denken“ findet vom 1. bis 3. Juni in Palma statt.

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