Es ist kein Geheimnis, dass die Justiz in Spanien schon vor der Corona-Krise überlastet war und Gerichtsverfahren und deren Urteilsverkündigungen sich teilweise um ­Jahre verzögerten. Nun jedoch steht seit Verkündung des Alarmzustands (14.3.) fast die gesamte Justiz still, was die sowieso schon schwierige Lage noch komplizierter gestaltet. In den vergangenen Wochen sind Tausende neuer Anträge hinzugekommen, von denen bis dato kaum einer bearbeitet worden ist.

Das Königliche ­Gesetzesdekret (Real Decreto-ley) 16/2020 will diese Situation nun in den Griff bekommen. In dem Dekret werden die Vorkehrungen und Maßnahmen für die Organisation der Gerichtsprozesse im Rahmen der Covid-19-Pandemie erläutert. Somit müssen sich auch Strafverteidiger, Scheidungs- und Staatsanwälte, Richter, Justizbeamte und Gerichtssekretäre in der „neuen Normalität" zurechtfinden und sich auf Änderungen in ihren gewohnten Arbeitsabläufen einstellen. Die Rede ist darin etwa von Online-­Gerichtsverfahren, Nachmittagsschichten der Beamten sowie Beibehaltung der Geschäftstätigkeit in einigen Augustwochen. (Der Monat August galt bis jetzt spanienweit stets als inhábil - als dienstfrei für alle Beschäftigten in der Justiz.)

Martín Aleñar Feliu, Dekan der Anwaltskammer der Balearen (ICAIB) sieht den neuen Maßnahmen mit gemischten Gefühlen entgegen. „Einige werden wirksam sein, wie zum Beispiel die Verordnung, dass die Beamten nun in zwei Schichten, morgens und nachmittags, arbeiten müssen - dies könnte ein wenig Entlastung für unser Justizsystem bedeuten", sagt er. Andere Änderungen seien jedoch bei Weitem nicht ausreichend und wieder andere schlicht und einfach falsch, so Aleñar. Auch der Verwaltungsrat der Anwaltskammer hat bereits seine „tiefe Enttäuschung" über das Dekret zum Ausdruck gebracht. Die Verordnung sei eine nutzlose Geste, solange die Anzahl der Richter nicht erhöht werde und finanzielle Mittel für die Aus­arbeitung der Maßnahmen zur Verfügung gestellt würden.

Ähnlich sieht dies auch Carlos de la Mata, Anwalt und Leiter der Kanzlei De la Mata Abogados und Dozent an der Universität der Balearen. „Mit diesem Dekret investiert der Staat keinen einzigen Cent in die Justizverwaltung. In Spanien brauchen wir einfach mehr Richter und generell mehr Justizbeamte, um einen Weg aus der Arbeitsüberlastung zu finden", sagt er.

Arbeiten im August

Weder Martín Aleñar noch Carlos de la Mata halten es für eine gute Idee, die Geschäftstätigkeit einen Teil des August über aufrechtzuerhalten. „Anstatt dass wie immer alle im August Urlaub haben und somit nur ein einziger Monat ausfällt, ­werden nun Anwälte, Richter und Beamte auf vier Sommermonate verteilt Urlaub ­nehmen - das wird dazu führen, dass die Justizverwaltung monatelang nur mit ­halber Kraft arbeiten wird", sagt Aleñar. Außerdem sei es im August, der in ganz Spanien traditionell als „Ferienmonat" gelte, schwer, Zeugen und Streitparteien gerichtlich vorzuladen - somit werde die Wahrscheinlichkeit des Nichterscheinens vor Gericht erhöht. Das könne dann zu weiteren Verzögerungen führen.

Online-Prozesse

Das Königliche Gesetzesdekret sieht außerdem vor, dass während des Alarmzustands und drei Monate nach dessen Beendigung zahlreiche Gerichtsverfahren telematisch vollzogen werden sollen. Martín Aleñar ist da ebenfalls skeptisch. Die telematische Prozessführung sei schön und gut, aber er fragt: „Wo ist das Geld, um die technischen ­Voraussetzungen zu schaffen?"

Auch Carlos de la Mata sieht eine Menge ganz praktischer Probleme. „Sollen wir dann etwa über WhatsApp oder Zoom ­Gerichtsprozesse führen?" Andere technische Lösungen gebe es derzeit nicht. Man könne nicht davon ausgehen, dass alle ­Beamten, Parteien und Zeugen in einen Prozess über einen Computer mit entsprechender Kamera verfügen. Schon so einfache Dinge wie die Identifizierung eines Zeugen könnten da zu Problemen führen. „Soll dann der Zeuge seinen Ausweis vor die Kamera halten, damit der Richter ihn korrekt identifizieren kann?" Hiermit laufe man Gefahr, dass der Ausweis gefälscht sein könnte oder es sich um eine ganz andere Person handle.

Wäre vermeidbar gewesen

„Es hätte gar nicht zu dieser noch größeren Überlastung der Gerichte kommen dürfen", sagt die Anwältin einer auf Konkursrecht spezialisierten Kanzlei aus Palma de Mallorca, die nicht beim Namen genannt werden möchte. Wie die Strafgerichte hätten auch die ­Zivil- und Handelsgerichte während des Alarmzustands wenigstens minimal weiterarbeiten müssen - somit hätte zumindest ein Teil der angehäuften Verfahren ­abgearbeitet werden können. „Aber während der vergangenen zwei Monate wurde so gut wie nichts gemacht", sagt die ­Juristin. Wenn sowohl Angestellte von ­Privatunternehmen als auch zahlreiche ­Beschäftigte öffentlicher Behörden in all diesen Wochen entweder von zu Hause aus oder physisch anwesend (mit Mundschutz und Sicherheitsabstand) weitergearbeitet haben, warum dann nicht auch die Beamten der Justizverwaltung, fragt sie sich.

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