„Das ist unser Dorf", sagt Joan Ferrer und deutet auf die Schwarz-Weiß-Fotografie, die in seinem Wohnzimmer über dem Fernseher hängt. Sie zeigt den hessischen Ort Nieder-Ramstadt. Fünf Jahre lebte er dort mit seiner Frau Catalina, als einer der wenigen mallorquinischen Gastarbeiter in der Bundesrepublik Deutschland. Die Zeit von 1961 bis 1966 erlebte das Ehepaar aus Llubí als eine besonders prägende Phase. Die Ferrers waren jung verheiratet, verdienten gutes Geld, waren der Franco-Diktatur entkommen und lernten die Demokratie kennen. „Das war für uns wie ein neues Leben. Mallorca war ja damals 100 Jahre hinter Deutschland. Und wenn du nicht auf der Seite des Regimes warst, hattest du überhaupt nichts zu melden", erinnert sich der heute 74-Jährige, der aus einer republikanischen Familie stammt. Vor allem aber begeisterten sich die beiden Mallorquiner für die Menschen in ihrem Gastland. „Wir haben nur positive Erfahrungen gemacht, alle waren so freundlich und hilfsbereit. Daran werde ich mich immer erinnern", sagt Ferrer.

Tatsächlich kann man sich kaum einen größeren Deutschland-Fan als Joan Ferrer vorstellen. Auf das Land, das er als seine zweite Heimat bezeichnet, lässt er nichts kommen. „Ich verstehe gar nicht, was die Deutschen alle auf Mallorca wollen. Ich bin jedes Mal wieder begeistert, wenn ich nach Deutschland komme, allein die Landschaft ist ja schon viel schöner als hier."

Sein Deutschland-Abenteuer begann im Januar 1961 mit der ersten Flugreise seines Lebens. Bis Paris fuhr der damals 26-Jährige mit dem Zug, von dort flog er nach Frankfurt am Main. Den Grenzkontrolleuren zeigte er eine stolze Barschaft von 20.000 Peseten, Ersparnisse und Geld, das er sich von der Verwandtschaft geborgt hatte. Ferrer wollte bei der Einreise als Tourist gelten. Eine Arbeitserlaubnis konnte er damals noch nicht vorweisen, obwohl ihm ein Bekannter längst eine Stelle in einer Kunststofffabrik in Nieder-Ramstadt besorgt hatte. Dort fertigte der Mallorquiner Schreibmaschinen-Tasten. Daheim in Llubí hatte Ferrer in einer Likör-Destillerie gearbeitet.

„Aber der Lohn reichte hinten und vorne nicht. Das Geld, das ich dort für einen Monat bekam, hatte ich in Deutschland in vier bis fünf Tagen verdient." Endlich konnte der junge Mann komplett auf eigenen Füßen stehen, wenige Monate nach seiner Ankunft holte er seine Verlobte Catalina nach. Nach einer Blitz-Hochzeit in Llubí startete das Paar in Hessen ins Eheleben. Auch Catalina fand Arbeit in Joans Firma. Doch nach zwei Jahren wechselten die beiden den Arbeitgeber. „Fast die Hälfte der Mitarbeiter dort waren Andalusier und Katalanen, es wurde viel Spanisch gesprochen. Wir wollten aber unbedingt unser Deutsch verbessern." An ihrer neuen Arbeitsstelle, ebenfalls eine Kunststofffabrik, waren sie nicht nur die ersten Spanier, sondern fanden in ihrem Chef, dem Ingenieur Adam Wittersheim, einen besonders gütigen Menschen und Freund. „Er unterstützte uns, wo er konnte, eine besondere Persönlichkeit." Wittersheim und ihn verband außerdem die gemeinsame Leidenschaft für die Imkerei. Die Wochenenden verbrachten sie oft bei Bienenstöcken in einem nahen Wald. Catalina ließ sich von Freundinnen deutsche Gerichte beibringen. „Ich mache heute noch Kartoffelsalat und Gulasch, Marmorkuchen und Apfelkuchen", erzählt die 71-Jährige. In ihrer Zeit in Hessen wurden die Ferrers auch Zeugen des deutschen Wiederaufbaus. „In Darmstadt gab es noch viele Ruinen, und die Leute erzählten uns von den Bombenächten. Aber in einer beeindruckend kurzen Zeit standen wieder Häuser. Als wir zurück nach Mallorca gingen, waren viele Kriegsspuren beseitigt."

Nach fünf Jahren zog das Ehepaar wieder nach Llubí. „Meine Mutter war damals schwer krank geworden", erinnert sich Ferrer. Der Neustart auf der Insel gelang dank ihrer D-Mark-Reserven und ihrer Deutsch-Kenntnisse hervorragend. „Wir konnten unser Haus bauen, einen Citroën kaufen und fanden sofort Arbeit in einem Hotel." Deutschland sahen sie 40 Jahre lang nicht wieder. Vor fünf Jahren schließlich packte sie die Neugier. Was wohl aus Nieder-Ramstadt geworden war? Die Ferrers brachen zu einem Überraschungsbesuch auf und waren erneut begeistert. „Ich hatte Angst, dass sich vielleicht viel verändert hätte. Aber es ist noch genauso schön wie damals." Auch alte Nachbarn und Freunde trafen sie wieder. Seitdem machen die Ferrers jedes Jahr Deutschland-Urlaub. „Diesen Sommer fahren wir wieder. Wir freuen uns schon."

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- Nachhilfe in Demokratie