Clara Emma Friedericke Agnes Laura Hammerl, eine der bemerkenswertesten deutschen Frauen, die es je nach Mallorca verschlagen hat, wird am 15. März 1858 um sieben Uhr morgens im ostpreußischen Bromberg, dem heutigen Bydgoszcz geboren. Ihr Vater, der Lokomotivführer Friedrich Hammerl, und ihre Mutter, Emma Müller, lassen sie knapp zwei Monate darauf evangelisch taufen. Über ihre Kindheit und Jugend ist kaum etwas bekannt. Clara Hammerls Spur taucht erst 1885 wieder in ­Berlin auf: Der Vater ist gestorben, und die Mutter zieht zusammen mit Clara und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester, Marie Ida Bertha, in die Reichshauptstadt, zunächst in die Keibelstraße, 40, in die Nähe des Alexanderplatzes. Clara arbeitet als Deutschlehrerin. Zwei Jahre später – die drei Frauen sind inzwischen in ihre dritte Wohnung nach Kreuzberg gezogen – bekommt Clara einen neuen Sprachschüler. Es ist ein vermögender und gebildeter ­Mallorquiner namens Guillem Cifre de Colonya, der zur Fortbildung nach Berlin gekommen ist. Daheim in Pollença hat der 35-jährige Adoptivsohn eines Großgrundbesitzers eine Schule gegründet, die zu den fortschrittlichsten in ganz Spanien gehört, sowie eine Sparkasse, die noch heute bestehende Colon­ya Caixa d´Estalvis de Pollença. Der mallorquinische Freigeist und die 29-jährige Deutsche verlieben sich ineinander. „Ich bin glücklich, Don Francisco, weil ich der Überzeugung bin, die Frau gefunden zu haben, die meine Gefährtin sein soll und als kräftige und freudespendende Helferin in jenes Werk eintreten kann, das mich für den Rest meines Lebens beschäftigen soll," schreibt Guillem ­Cifre am 15. August 1888 an seinen Madri­der Lehrmeister Francisco Giner de los Ríos. Das „Werk" ist der Aufbau von Institutionen wie Schulen, Sparkassen und Kooperativen, um der „Ausbeutung der arbeitenden Klassen" auf Mallorca ein Ende zu bereiten. Den liberalen institucionalistas geht es nicht um Revolution, aber um eine grundlegende Demokratisierung.

Ein gutes Jahr später, am 7. Oktober 1889, heiraten die beiden auf dem Standesamt in Kreuzberg; eine kirchliche Trauung findet allem Anschein nach nicht statt. Ende ­November 1889 zieht Clara Hammerl mit Guillem Cifre nach Pollença, einer von der aufstrebenden Metropole Berlin denkbar weit enfernten, ländlich geprägten Kleinstadt am Mittelmeer, deren gut 8.000 Bewohner fast ausschließlich Mallorquinisch sprechen und streng katholisch sind. Das Ehepaar zieht in das geräumige Stadthaus der Cifre de Colonyas in der Carrer de Mallorca 32. „Gestern ist unser Freund mit seiner riesigen Deutschen angekommen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine so große Frau gesehen zu haben, aber in den wenigen Augenblicken, in denen ich bislang mit ihr zu tun hatte, erschien sie mir sehr sympathisch und intelligent", schreibt in einem Brief der Arzt Joan Albis, einer der Mitstreiter von Guillem Cifre. Doch der Empfang ist nicht durchweg so freundlich. Nicht in der Familie – die im gleichen Haus lebenden Schwiegereltern sind von Clara wenig angetan – und nicht in gro­ßen Teilen der Öffentlichkeit, in der die Schule Institució d´Ensenyament und die Sparkasse schlicht als Teufelszeug gelten. Die erzkonservativen mallorquinischen Kirchen­oberen werden 1893 sogar eine zweiwöchige „Heilige ­Mis­sion" nach Pollença schicken, um mit predigenden Jesuiten, öffentlichen Glaubensbekenntnissen und feierlichen Umzügen dem „Protestantismus und anderen Fehlern" ein Ende zu bereiten. Als an den „Fehlern" ihres Mannes unmittelbar Beteiligte und Protestantin ist Clara Hammerl doppelt gebrandmarkt.

„Ich hoffe, dass die zweite Hälfte meines ersten Ehejahres etwas weniger schrecklich wird", schreibt Clara Hammerl am 20. Juni 1890 an Francisco Giner de los Ríos. Zwei Monate später kommt ihr erstes Kind zur Welt, Guillem. Es stirbt zwei Tage nach der Geburt an Eklampsie, einem Krampfanfall. 1891 dann entbindet Clara Hammerl eine Tochter, Antònia. Die Geburt verläuft reibungslos, aber das Wochenbett zieht sich lange hin. Clara vermag ihre Tochter nicht zu stillen – die kleine Antònia müsse an der Zitze einer Ziege saugen, berichtete ihr nichtsdestotrotz überglücklicher Vater nach Madrid. Antònia überlebt, doch die hohe Kindersterblichkeit soll die Familie weiter zeichnen. 1892 stirbt noch ein Kind – die nach der Großmutter benannte Emma – zwei Monate nach der Entbindung an einer Bronchitis.

Gut fünf Jahre sind seit der Ankunft in Pollença verstrichen, als am 5. November 1894 eine zweite Tochter auf die Welt kommt und überlebt. Sie wird erneut Emma genannt. Clara Hammerl, die schon bald nach ­ihrer Ankunft Mallorquinisch gelernt hatte, scheint in Pollença angekommen zu sein. Ihre Mutter ist nachgezogen und hilft im Haushalt. Gemeinsam bringen sie deutsches Kulturgut auf die Insel – unter anderen macht Pollença Bekanntschaft mit dem Weihnachtsbaum. Clara Hammerl gibt der durch die Boykottaufrufe in eine Krise gestürzten Schule neue Impulse, unterrichtet Deutsch und plant zusammen mit ihrem Mann ein kleines Internat für Schülerinnen und Schüler. „Dort können wir dann unsere erzieherischen Prinzipien umsetzen, höheres Wissen vermitteln (...) und den Kindern, über das Spanische hinaus, Sprachen beibringen", formuliert Guillem Cifre den pädagogischen Anspruch. Clara Hammerl nimmt auch am traditionell den Männern vorbehaltenen politischen Leben teil, etwa an Treffen der republikanischen Partei, für die ihr Mann zeitweise im Stadtrat sitzt.

Am 29. Januar 1900 schlägt das Schicksal ein weiteres Mal zu: Die fünfjährige Emma stirbt, nachdem sie an Diphterie erkrankt war. Clara Hammerl schreibt die Infektion den offenen Abwasserrinnen der Stadt zu. Es ist ein Wendepunkt in der Geschichte der Familie. Der bereits zuvor schwermütige Guillem Cifres fällt in eine tiefe Depression, und die 42-jährige Clara ist plötzlich noch einmal schwanger. Am 4. September wird ein Junge geboren, der wieder Guillem heißt. Die Familie beschließt, das prestigeträchtige Stadthaus zu verkaufen und auf den Ländereien des Landgutes ­Colonya ein neues Haus fernab offener Abwasserrinnen und schmerzhafter Erinnerungen zu bauen.

Die possessió wird zum einzigen der Familie verbliebenen Besitz. Wenige Jahre nach Einzug verliert Guillem Cifre praktisch sein gesamtes Vermögen: Ein hoch verschuldeter Freund, für den er eine Haftungserklärung abgegeben hat, begeht in Palma Selbstmord – das Geld muss Cifre zurückzahlen. Obwohl die Familie immer noch über Einkünfte verfügt, die weit über dem Durchschnitt jener Zeit liegen, erholt sich Guillem Cifre von diesem Schlag nicht mehr. Die Depressionen werden immer schlimmer und können allenfalls bei Kuraufenthalten fernab der Insel etwas gelindert werden. Clara Hammerl übernimmt nach und nach in Sparkasse und Schule das Ruder und hält den Kontakt zu den Freunden und Pädagogen in Madrid aufrecht. „Als ein Schlag nach dem anderen – die [Angriffe der] Kirche, der Tod seiner Kinder, der Verlust seines Vermögens – die Kräfte ihres geliebten Ehemanns schwinden ließen, wusste sie ihm zu helfen und zu stärken, um weiter gegen die Unwissenheit und die an Sklaverei grenzende Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung von Pollença zu kämpfen", formuliert ihr Sohn Guillem Jahre später in einem Briefwechsel. Ihren Mann vermag sie nicht mehr aufzubauen: In seiner Verzweiflung schluckt der 56-jährige Guillem Cifre am 29. Mai 1908 im französischen Lyon Gift und stürzt sich von einer Brücke in die Rhône. Er stirbt am 4. Juli nach qualvoller Agonie in einem Lyoner Krankenhaus.

Nach dem Tod ihres Mannes übernimmt Clara Hammerl auch formal die Leitung der Caixa d´Estalvis de Pollença und wird dadurch zur ersten Sparkassenchefin Spaniens. Zusammen mit einem Mitstreiter von Guillem Cifre, Rafel Cortès, gelingt es ihr, das Geschäft nicht nur zu stabilisieren, sondern mit über tausend Sparern weiter auszubauen. Sie kümmert sich um die Wiedereröffnung der Schule und findet einen Lehrer, Gabriel Comas, der den pädagogischen Ansätzen ihres Mannes ­nahesteht. Sie ist so beschäftigt, dass sie sich nur noch wenig um Antònia und Guillem kümmern kann. In einem an Francisco Giner de los Ríos gesandten Rückblick auf den Sommer 1908 schreibt sie: „Leider habe ich meine zwei Kinder zu sehr vernachlässigen müssen. Es war mir unmöglich, ihnen den notwendigen Unterricht zuteil kommen zu lassen oder Ausflüge mit ihnen zu unternehmen. Selbst sonntags mussten sie alleine zu Hause bleiben, weil ich an diesem Tag in der Sparkasse sein muss, wo doch der stellvertretende Direktor ein Monat in San Hilario ist. Es ist für mich ein Grund großer Zufriedenheit zu sehen, dass die Geschäfte gut laufen und das Vertrauen des Volkes genießen."

Zugleich kümmert sich Clara Hammerl um die Familieninvestitionen, unter anderem Import-Export-Geschäfte und eine Finanzbeteiligung, und packt auf der possessió mit an. „Die Kinder haben eine Zeit lang baden können, was mir unmöglich war. Die sehr ergiebige und lange Mandelernte sowie Bauarbeiten fesselten mich an Colonya. Mir geht es gut. Ich habe meine Kräfte ausprobiert, und das Ergebnis ist zufriedenstellend. Den ganzen August über habe ich vom Morgengrauen bis zum Sonnen­untergang auf den Fel-dern der Hitze getrotzt, immer auf den Beinen, und habe noch nicht einmal Schwindel verspürt. Müdigkeit, das ja. Die harte Arbeit ließ mich nachts ins Bett fallen, doch am nächsten Morgen fühlte ich stets neue Kräfte in mir erwachen", berichtet sie in dem bereits erwähnten Rückblick.

Doch Clara Hammerl und ihre Kinder beginnen sich von Mallorca abzunabeln. Die Winter 1909 und 1910 verbringt die Famile in Madrid, wo Antònia und Guillem auf der Institución Libre de Enseñanza – sozusagen der Mutterschule der Institució in Pollença – unterrichtet werden. 1912 geht es dann nach Berlin, wo die Kinder Deutsch lernen sollen und Antònia sich zunächst zur Fotografin ausbilden lässt – ein Vorhaben, das sie nach der Rückkehr nach Spanien, wahrscheinlich 1914, wieder fallen lässt. Zurück auf Mallorca mietet Clara Hammerl eine Wohnung in Palmas Stadtviertel El Terreno an, damit Guillem die Schule beenden kann. 1916 schließlich der definitive Bruch: Clara Hammerl legt die Leitung der Sparkasse nieder. Die Familie zieht nach Madrid, wo Guillem seine Studien als Landwirtschaftsingenieur aufnimmt. Die 58-jährige Clara Hammerl widmet sich fortan praktisch ausschließlich ihren beiden Kindern.

Obwohl sie ein gutes Vierteljahrhundert nicht nur in Pollença gelebt, sondern sogar die Geschicke des Ortes mitbestimmt hatte, war sie immer ein Fremdkörper geblieben. Auch andere Mitstreiter ihres Mannes wurden angefeindet, sie aber war Deutsche, Protestantin, Frau. Außerordentlich hoch gewachsen und ungewöhnlich blond, fiel sie äußerlich auf. Keines ihrer Kinder war getauft. Die Witwe trug nicht Schwarz, sondern Weiß. Sie kleidete sich nicht wie wie die Landadligen und nicht wie die Bauern. Sie trug Hüte, die doch eigentlich den Männern vorbehalten waren. Die Wohlhabenden des Ortes ließen sich ­herumkutschieren, sie legte die Strecke zur possessió oder zur Schule lieber zu Fuß zurück. Vor allem aber: Wo die Einheimischen mitunter fünf gerade sein ließen, bestand Clara Hammerl auf Prinzipien.

Besonders zu spüren bekamen das ihre Kinder. „Sie hat ihre deutschen Überzeugungen nie aufgegeben. Sich immer korrekt verhalten, sich selbst und anderen gegenüber. Meine Erziehung war von absoluten Regeln bestimmt, die sie mich nicht vergessen ließ (...). Lügen war eine Todsünde, und nichts ging über die persönliche Hygiene", erinnert sich Guillem. Als er einmal vergaß, nach dem Abendessen die Servietten in den Serviettenring zu stecken, suchte seine Mutter ihn mit dem Ring in der Hand bei den Nachbarjungen auf, um ihn an das Versäumnis zu erinnern. „Ich glaube, ich habe nie wieder vergessen, diese Pflicht zu erfüllen, bis heute."

Die Charakterstärke und Strenge sollte sich noch in eine weiteren Aspekt zeigen: Clara Hammer gelingt es nicht, ihre Kinder ziehen zu lassen. Zunächst verjagt sie in Berlin einen preußischen Offizier, der Antònia umwirbt und ihrer Tochter bei einem Tanzabend ein klein wenig zu nahe kommt – der junge Mann stirbt Monate später im Ersten Weltkrieg. Zurück auf Mallorca geht sie dann mit einer Axt auf Esteve Rotger los, einem jungen Mann, der bei Cifre zur Schule gegangen war und auf dem Hofe der Familie gearbeitet hatte. Unvermutete ständische Dünkel bei einer Frau, die ihr Lebtag die Gleichheit aller Menschen predigte, oder – wahrscheinlicher – tief sitzende Verlustängste bei einer Mutter, die drei Kinder verloren hatte? Fest steht, dass es über die Beziehung zu Esteve Rotger zwischen 1916 und 1918 zum Bruch zwischen Mutter und Tochter kommt. Antònia brennt mit ihrem Freund nach Barcelona durch, heiratet und wandert von dort nach Rosario in Argentinien aus.

Da Antònia darauf besteht, das Erbe ihres Vaters ausgezahlt zu bekommen und auch die Ausbildung von Guillem bezahlt sein will, ver­kauft die Familie zwischen 1920 und 1922 die ihr verbliebenen Ländereien der possessió Colonya an die Bauern, die zuvor die Felder bestellt hatten. Clara und ihr Sohn ziehen in die USA, wo Guillem in Corvallis (Oregon) bis 1924 Landwirtschaft studiert. Sein ursprünglicher Plan, nach dem Studienabschluss zusammen mit einem Schulfreund in Pollença in den Obstexport einzusteigen, zerschlägt sich. Aus Guillem Cifre wird der US-Bürger William Cifre. Er verlobt sich mit einer Kommilitonin und wird kurz darauf von einem multinationalen Unternehmen nach Buenos Aires geschickt.

Die letzten Jahre sind turbulent. Clara kehrt kurzzeitig nach Pollença zurück, weiß dort aber ohne Mann, Familie, Landgut und Aufgabe offenbar nicht mehr viel mit sich anzufangen. Die 66-Jährige reist zu ihrem Sohn nach Bue-

nos Aires – der allerdings kurz darauf wieder in die USA zurückkehrt und heiratet. Kurz vor oder aber auch nach seiner Rückkehr – die Informationen zu dieser Zeit sind spärlich –, besucht Clara auch Antònia, die in der Zwischenzeit zwei Kinder zur Welt gebracht hat: Guillermo und Gustavo Adolfo Rotger.

Der Großmutter hat es besonders der jüngere der beiden Enkel, Gustavo Adolfo, angetan und tut noch einmal etwas Außergewöhnliches: Sie nimmt den Jungen mit auf eine Reise nach Pollença. „Es verstrichen Monate – und ­Doña Clara kam nicht mit dem Kind zurück", schreibt die Geografin Ana Jofre in einem Buch über balearische Auswanderer in Argentinien. Schließlich muss Antònia den beiden nachreisen, um ihren Sohn wiederzuerlangen. Der Showdown zwischen den beiden Frauen führt zu einer letzten überraschenden Wendung: Die beiden versöhnen sich, und Clara Hammerl beschließt, zu ihrer Tochter nach Argentinien zu ziehen.

Es sollte kein geruhsamer ­Lebensabend werden. Esteve Rotger, den Clara anscheinend immer noch nicht leiden kann, verliert in der Weltwirtschaftskrise seine ­Bäckerei, die Familie verarmt und muss bei einem Cousin des Schwiegersohns, tief in der argentinischen Provinz, in Rufino (Santa Fé) Zuflucht suchen. Dort, fernab von Bromberg, Berlin, Pollença und ­Lyon stirbt Clara Emma Friedericke Agnes Laura Hammerl am 9. Oktober 1931 im Alter von 73 Jahren.

Pere Salas ist Dozent für Geschichte an der Universitat de les Illes Balears, Fanny Llabrés Mesquida ist Sozialforscherin. Übersetzung und journalistische Bearbeitung: Ciro Krauthausen