Wenn Andrea Sastre mit ihrer erwachsenen, aber im Rollstuhl sitzenden Schwester an der Supermarktkasse an der Reihe ist, wendet sich die Verkäuferin meist direkt an sie. „Obwohl meine Schwester immer selbst bezahlt", berichtet die Mallorquinerin, die nicht nur privat, sondern auch beruflich mit körperlich behinderten Menschen zu tun hat - als Betreuerin im Beschäftigungszentrum von Asprom (Associació Balear de Persones amb Discapacitat Física), der balearischen Vereinigung für Personen mit körperlicher Behinderung. „Menschen im Rollstuhl werden oftmals nicht als vollwertige Person wahrgenommen, sondern für beschränkt gehalten", bedauert Sastre. Die Gesellschaft müsse in dieser Hinsicht noch viel lernen. Zumal die Barrieren im Kopf nur das eine sind. Daneben stoßen Menschen mit einer körperlichen Behinderung auf zahlreiche andere Hindernisse, die ein ganz normales Leben bisweilen schwierig machen.

Arbeitsleben

Manuel Zafra, Vorsitzender von Asprom, sitzt im Rollstuhl seit er vor 26 Jahren einen Unfall beim Korallenfischen in rund 90 Metern Tiefe hatte. Da er bis dahin vom Tauchen lebte, musste er sich beruflich neu orientieren - und machte schließlich die Aufnahmeprüfung als Beamter bei der Balearen-Verwaltung, wo er bis zur Rente arbeitete. Ein normaler Arbeitsplatz, der an die Bedürfnisse eines körperlich Behinderten angepasst ist, sei die Ideallösung, sagt der 64-Jährige - wohlwissend, dass es dafür viel Willensstärke braucht. Und vor allem auch die Unterstützung der Arbeitgeber. „Seit 1982 müssen alle Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitern, die Verwaltung eingeschlossen, mindestens zwei Prozent ihrer Stellen mit Menschen mit Behinderung besetzen", erklärt Zafra. Doch in der Praxis habe dieses Gesetz immer noch kaum Auswirkungen. „Würde es eingehalten, wäre das Thema ´arbeitslose Behinderte´ auf den Balearen schnell vom Tisch", ist er überzeugt.

Ganz so schlecht sieht es bei der Integration von Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt auf den Inseln dennoch nicht aus. Viele körperlich behinderte Menschen würden sich heutzutage auf eigene Faust einen Job suchen und in den Statistiken gar nicht auftauchen, sagt José Manuel Portalo, der bei Mallorcas Inselrat den Fachbereich für Menschen mit Behinderung leitet. Zudem sei Mallorca Vorreiter bei der Implementierung eines Modells namens „Trabajo con apoyo" (Arbeit mit Hilfestellung). Dabei werden Arbeitskräfte mit Behinderung in der freien Wirtschaft - häufig in der Hotel- und Gastronomiebranche, aber auch bei Garten-, Reinigungs- und Instandhaltungsfirmen - angestellt und im Unternehmen von einem Tutor betreut. Derzeit sind so balearenweit 610 Stellen besetzt, rund 700 weitere Personen sind auf der Suche nach solchen Arbeitsplätzen. „Das ist der höchste Wert in ganz Spanien", sagt Portalo. In anderen Regionen, aber auch in Deutschland, sei das Modell der „geschützten Arbeit", etwa in Behindertenwerkstätten, noch wesentlich weiter verbreitet. „Solche Einrichtungen sind gut geeignet, um die Menschen auszubilden und auf den freien Arbeitsmarkt vorzubereiten, aber keine Dauer­lösung", kritisiert Portalo. Verbesserungs­bedarf besteht auf Mallorca allerdings bei der Berufsausbildung für Behinderte: Die Stellen seien meist auf wenige Monate begrenzt und zudem rar gesät - wobei Letzteres auch Nicht-Behinderte betrifft, da Spanien bei der dualen Ausbildung immer noch stark hinterherhinkt.

Alltagswege

Das balearische Gesetz zur Barrierefreiheit stammt von 1993. 15 Jahre Übergangsfrist wurden damals eingeräumt, um bestehende öffentliche Einrichtungen und Anlagen behinderten­gerecht umzubauen. Alle Neubauten - neben Verwaltungsgebäuden auch Einkaufszentren, Hotels oder Wohnungen - müssen seitdem ebenso barrierefrei sein wie Gehwege, Zebrastreifen oder Bahnhöfe. So zumindest die Theorie. Manuel Zafra jedoch findet immer noch zahlreiche Barrieren - die er und seine Mitstreiter hartnäckig und teils auch wiederholt zur Anzeige bringen. „Als ich letztens beim Verbraucherschutzministerium war, um mich über einen Telefonanbieter zu beschweren, habe ich gleich noch mitangezeigt, dass für Rollstuhlfahrer der Schalter nicht zugänglich ist."

Als Zafra im Jahr 2000 in den Beamtendienst eintrat, musste er anfangs von seinen Kollegen über mehrere Stufen zu seinem Schreibtisch getragen werden. Bald bekam auch sein ehemaliger Chef in der Balearen-Regierung, der ehemalige Ministerpräsidenten Jaume Matas (PP), das Dilemma mit - und forderte von seinem Mitarbeiter im Rollstuhl ein Gutachten über die Barriere­freiheit aller Ministerien an. In der Folge habe sich einiges getan, auch in anderen Behörden in Palma. „Aber auf den Dörfern der Insel sind die meisten Rathäuser immer noch nicht barrierefrei."

Seit jeher zu schaffen machen den Rollstuhlfahrern Palmas Altstadtgassen und die verwinkelten Straßen der Inseldörfer. „Valldemossa etwa ist wunderschön, aber mit Rollstuhl eigentlich nicht zu besuchen", weiß Andrea Sastre aus Erfahrung. Kaum passierbar sei außerdem der Platz am Parc de la Mar vor Palmas Haupttouristen­attraktion, der Kathedrale. Und auch am Borne-Boulevard oder zwischen Paseo Marítimo und Plaza de la Lonja stießen Besucher der Inselhauptstadt auf nur schwer überwindbare und teils gefährliche Hindernisse und Unebenheiten

An- und Weiterreise

Die meisten Mallorca-Besucher kommen mit dem Flugzeug. Um problemlos mit einem Rollstuhl fliegen zu können, muss man diesen vorab bei der jeweiligen Airline anmelden - idealerweise gleich bei der Buchung, spätestens aber 48 Stunden vor dem Abflug. Rollstühle fliegen gratis mit, aufgrund der Größe jedoch meist im Frachtraum. Der Flughafen in Palma ist barrierefrei. „Da gibt es deutsche Flughäfen, die schlechter zugänglich sind", sagt Adina Hermann. Die Deutsche sitzt im Rollstuhl und war schon mehrmals auf Mallorca, zuletzt 2010. Vor dem Terminal wartete aber schon die erste Hürde: der Shuttle-Bus. Ein ganz normaler Reise­bus des Veranstalters, ohne Hublift, ohne Rampen. Hermann und ihr Mann Timo mussten improvisieren. „Adina hat einen Platz ganz vorne bekommen, ich habe sie reingetragen und der Rollstuhl kam in den Gepäckraum", sagt Timo Hermann.

Die Hermanns hatten Glück, da Adina einen Rollstuhl mit manuellem Antrieb fährt. Elektrische Modelle wiegen rund 150 Kilogramm, ohne Rampe sind sie kaum zu stemmen. Aus diesem Grund sind alle öffentlichen Busse auf Mallorca mit einer entsprechenden Rampe ausgestattet. Doch auch das garantiert keinen hürdenfreien Transport: hohe Bordsteine, zugeparkte und zu enge Haltestellen können zum unüberwindbaren Hindernis werden. „In den Dörfern ist die Situation komplizierter als in Palma, dort sind die Haltestellen oft noch nicht barrierefrei", sagt Salvador Servera von der balearischen Transportvereinigung (FEBT). Die Überlandbusse auf der Insel seien außerdem überhaupt nicht behindertengerecht, kritisiert Manuel Zafra von Asprom.

Zufrieden ist Manuel Zafra allerdings mit den Taxis: Auf Mallorca gebe es rund 70 rollstuhlgerecht umgebaute und mit Rampe ausgestattete Fahrzeuge, deren Fahrer sogar eine Zusatzausbildung absolviert haben. „Das klappt immer hervorragend, allerdings ist Taxifahren auch eine Kostenfrage, das kann man sich nicht mehrmals täglich leisten."

Selbst ein Auto steuern kommt für Urlauber im Rollstuhl indes nicht infrage. Mietwagen, die an Fahrer mit Behinderungen angepasst werden können, gibt es auf Mallorca nicht. „Es ist schwierig, Autos für diese Fahrer auszurüsten, weil es dafür keinen Standard gibt", sagt Antonio Masferrer, Präsident des balearischen Mietwagenverbands. Möglich ist das indes sehr wohl: „In Deutschland gibt es Anbieter, die Mietwagen in Kooperation mit der Firma Paravan mit einem Modulsystem ausstatten, das relativ individuell angepasst werden kann", sagt Tim Hermann. Für den Inselurlaub bleibt indes vorerst nur die Lösung, die Masferrer vorschlägt: „Ein Mietauto mit großem Kofferraum." Hinters Steuer muss dann eine Begleitperson.

Essen, Freizeit, Feiern

Mallorcas kulinarisches Angebot reduziert sich für Rollstuhlfahrer schnell. Man finde zwar fast überall barrierefreie Restaurants, sagt Andrea Sastre. „Aber ich rufe immer zuvor an und frage nach." Wobei damit böse Überraschungen nie ganz vermieden werden könnten. „Es ist uns schon häufiger passiert, dass das Lokal zwar rollstuhlgerecht war, aber die Toiletten nicht."

Shoppen in den Einkaufszentren und Supermärkten mit ausreichend Behindertenparkplätzen ist in der Regel unproblematisch. Zu einem einzigen Hindernislauf wird aber ein Bummel durch Palmas Fußgängerzonen, wo vor allem bei älteren Geschäften schon an der Türschwelle Schluss ist. „Da muss man sich dann akustisch bemerkbar machen", rät Rollstuhlfahrer Martín, der in der Asprom-Einrichtung arbeitet.

Konzert- und Theaterbesuche sind in den modernen Veranstaltungssälen der Insel kein Problem. Teatre Principal, Auditorium oder Trui Teatre etwa sind mit Aufzügen und Rampen ausgestattet. Schwieriger wird es für Kinofans. Die modernen Multiplex-Säle seien zwar alle barrierefrei, allerdings werde man als Rollstuhlfahrer in die vordersten Reihen geschoben, wo man vom Hochschauen auf die Leinwand einen steifen Nacken bekomme, erzählt Andrea Sastre. In alten Kinos hingegen ist das Programm wesentlich eingeschränkter: Im Cine Augusta in Palma etwa ist nur einer der Säle für Rollstuhlfahrer geeignet. „Da muss man sich über die Filmauswahl nicht lange Gedanken machen", scherzt Manuel Zafra.

Wer als Rollstuhlfahrer feiern gehen will, hat zumindest in den großen Partytempeln barrierefreien Zugang. Der MegaPark an der Playa de Palma und die Diskothek Tito´s am Paseo Marítimo zum Beispiel verfügen über Aufzüge und ausreichend große Toiletten. Beide Unternehmen geben an, dass immer wieder Gäste im Rollstuhl kämen „Der Prozentsatz ist gering, aber ein bis zwei pro Tag sind es durchaus", sagt MegaPark-Sprecher René Knopf.

Strände & Sehenswürdigkeiten

Inzwischen sind diverse Strände auf Mallorca barrierefrei, teils werden dort sogar Strandrollstühle vermietet. Allerdings träfen die Gemeinden mit ihren guten Absichten nicht immer ins Schwarze: Palmas Stadtstrand Ciutat Jardí wurde vor Kurzem mit der blauen Flagge ausgezeichnet, wobei unter anderem die Barrierefreiheit als positives Merkmal gewertet wurde. Doch schon beim Ortstermin habe es fast einen Sturz gegeben, weil die Holzstege, die Rollstuhlfahrer über den Sand bis zum Wasser führen sollen, zu große Lücken zwischen den einzelnen Balken aufwiesen, erzählt Manuel Zafra. „Schnell-Schnell-Lösungen nutzen uns nichts, das muss ordentlich gemacht sein."

Das größte Problem für Insel­besucher ist indes, dass das Einrichten barrierefreier Strände Sache der Gemeinden ist und es bisher keine brauchbare Übersicht für die gesamte Insel gibt. Die Website discapnet.es, hinter der eine Privatinitiative steckt, füllt diese Lücke zwar, ist aber nur auf Spanisch. Dass hier - wie auch bei allen anderen touristischen Angeboten wie Museen, Sehenswürdigkeiten und Hotels - dringend Handlungsbedarf besteht, haben mittlerweile auch die politisch ­Verantwortlichen eingesehen. „Wir werden nicht alles barrierefrei machen können, aber wir müssen Urlauber mit Behinderung informieren, wo sie auf Mallorca was machen können", sagt Javier de Juan, Vizepräsident der mallorquinischen Sozial­behörde Imas. Ein Katalog, der alle Informationen und Tipps bündelt - welches Dorf ist empfehlenswert für Rollstuhlfahrer, welches weniger -, wäre in seinen Augen der erste Schritt, um den barrierefreien Tourismus auf Mallorca anzukurbeln.

Urlaubsunterkünfte

Ähnlich unübersichtlich ist die Lage bisher bei den Hotels: Es gibt zahlreiche barrierefreie Unterkünfte, eine Liste darüber führen momentan aber weder das Tourismus­ministerium noch der mallorquinische Hoteliers­verband FEHM. „Wir haben mehr als tausend Mitglieder, da ist es sehr schwer, diese Informationen zu generieren", entschuldigt sich eine FEHM-Sprecherin. Dazu gibt es noch die Auskunft: Per Gesetz sei zumindest in neuen Hotels eine Mindestanzahl an barrierefreien Zimmern vorgeschrieben. Wer es genauer wissen will, muss sich also in der jeweiligen Unterkunft informieren. Zudem bieten einige Spanische wie deutsche Vergleichs­portale in ihrer Suchmaske die Option, barrierefreie Unterkünften heraus­zufiltern.