Statt Antworten zu geben, erzählt Mangote lieber Geschichten. Etwa die von der jungen Frau aus Madrid, die vor einigen Monaten nach La Vileta kam. Geschickt hatte sie die Stiftung Fundación Secretariado Gitano, um Daten über die Verbreitung der Roma-Minderheit in Spanien zu erheben. Doch nach mehreren Runden durch den Vorort von Palma soll die Wissenschaftlerin enttäuscht wieder von dannen gezogen sein. „Weil sie keinen einzigen gitano gefunden hat, nicht einmal oben in Son Roca, wo 80 Familien wohnen", verkündet Mangote die Pointe seiner Anekdote mit sichtlicher Genugtuung. „Die Frage ist eben immer, mit welchem Stereotyp im Kopf man an eine Sache herangeht", sagt er und zeigt auf eine ältere Dame mit lila Kostüm und Blume im Haar. „Das ist Estrella, die hat den Flamenco im Blut, sie kommt aus einer Künstlerfamilie." Dann dreht sich Mangote zu einem hochgewachsenen Mann in kariertem Hemd und Markenjeans um. „Und das ist Paco, den erkennt man nicht sofort als gitano, oder?"

Voriges Jahr hat der 36-Jährige, der in Wirklichkeit Manuel Alameda heißt, den „Verein zur Integration der Volksgruppe der Gitanos" gegründet - wobei es ihm weniger um die Inte­gration geht, als um die ewigen Vorurteile gegenüber seiner Volksgruppe, um die es auch am Internationalen Roma-Tag am 8. April ging. „Wir sind die größte Minderheit, aber keiner kennt uns", erzählt Mangote beim Spaziergang durch La Vileta, wo er sein ganzes Leben verbracht hat. Alle paar Meter bleibt er stehen, um jemanden mit Handschlag zu begrüßen: einen Burschen mit akkurater Gel-Frisur, der als Frisör vorgestellt wird; eine schwangere Frau, die die Hausärztin ihrer kranken Schwiegermutter verklagen will, weil die irrtümlich mit Morphium behandelt wurde; oder den mallorquinischen Wirt einer Bar, mit dem Mangote ein bisschen über Jagdhunde fachsimpelt.

Am kleinen Park gegenüber treffen sich an sonnigen Nachmittagen die Männer auf endlose Pétanque-Partien und die Frauen zum Plausch, während der Nachwuchs, je nach Alter, Barbies und Bauklötze auf dem Asphalt ausbreitet, Fußbällen hinterherjagt oder sich auf eine Parkbank etwas abseits zurückzieht, um ein paar Joints zu rauchen. Die Grenzen zwischen gitanos und payos, wie die Roma alle Menschen außerhalb ihrer Volksgruppe nennen, verschwimmen dabei. „Wir leben hier seit jeher friedlich zusammen", sagt Mangote. Nur manchmal, etwa wenn die Polizei vorfährt und wegen des strengen Marihuanageruchs Ärger macht, würden die Unterschiede sichtbar. „Dann sind als Erstes die gitanos dran."

Dabei seien sie alle redliche Leute. Er selbst arbeite auf dem Bau, ebenso wie sein Vater, der ein Spezialist für Trockensteinmauern sei, erzählt Mangote - der sich nebenbei noch der Pferdedressur widmet, seiner wahren Leidenschaft. Ein Mann, der sich als Raymundo vorstellt, betreibt eine Firma, die auf Eisenarbeiten spezialisiert ist. Beim Bau von Palmas Gefängnis oder dem neuen Justizgebäude seien er und seine Männer maßgeblich beteiligt gewesen. „Wir bekommen Aufträge, weil wir gut sind", sagt Raymundo. Doch ein einzelner gitano auf Arbeitssuche in der Payo-Welt habe es immer noch schwer, fügt Mangote hinzu.

Traditionell verdingten sich die Roma auf Mallorca als Schrottwarensammler und ambulante Händler, die auf den Märkten Unterwäsche, Parfums oder Gemüse verkaufen. Doch inzwischen seien sie in allen Branchen vertreten, viele hätten eine Ausbildung oder einen Studienabschluss, bestätigt Carmen Azpelicueta, die Vorsitzende des Roma-Kulturvereins „Asosiación Cultural Romaní de las Islas Baleares". „Es gibt Arbeitslose genauso wie Anwälte." Ihr ganz normaler Lebenswandel jedoch mache sie weitgehend unsichtbar.

Zur Kenntnis genommen würden meist nur die gitanos im Getto von Son Banya, der Drogensiedlung nahe des Flughafens, die immer mal wieder für Schlagzeilen sorgt. Bekannt ist außerdem, dass sich größere Gitano-Gruppen in Son Gotleu konzentrieren, im Llevant-Viertel zwischen Flughafenautobahn und Manacor-Straße, oder im ­Fischerviertel Molinar und weiter draußen in Coll d´en Rabassa. Der Rest der balearenweit geschätzt 8.000 Roma sei übers ganze Stadtgebiet und auch im Inselinneren verstreut - und dort bestens integriert. „Das Wort Integration müssen wir aus unserem Wortschatz streichen", sagt Azpelicueta, die selbst keine gitana ist, aber die Roma-Kultur von klein auf, beim Spielen mit den Gitano-Kindern in ihrem Heimatdorf in Aragón, kennengelernt hat. Stattdessen müsse die Gesellschaft die Roma einfach anerkennen, als ganz normale Bürger, nicht mehr und nicht weniger.

Seit Azpelicueta, die an der Wirtschaftsfakultät der Balearen-Uni arbeitet, 2008 den Kulturverein mitbegründet hat, kämpft sie gegen die Imageprobleme der Ethnie - und die sozialen. Jede Woche verteilen sie und die anderen Freiwilligen Lebensmittelspenden an rund 1.300 bedürftige Personen, wobei darunter auch immer mehr payos sind. Daneben bietet der Verein Alphabetisierungs- und Spanisch-, aber auch Aufklärungskurse für Mädchen. „Sex ist nach wie vor ein Tabu", sagt Azpelicueta. Ebenso das Benutzen von Kondomen, daher sei die Kinderschar in der Regel groß.

Mangote ist mit seinen 36 Jahren fünffacher Vater. Der erste Sohn aus seiner Ehe mit einer gitana ist inzwischen 18 und selbst verheiratet. Die Mutter seiner jüngeren Kinder ist Mallorquinerin. Obwohl Beziehungen mit payos mittlerweile toleriert werden, ist Mangote selbst kritisch. „Eigentlich dürften wir uns nicht mischen, sonst stirbt unsere Kultur früher oder später aus", sagt er. Doch gegen die Liebe gebe es nun mal kein Heilmittel - deshalb werde er später auch seinen Töchtern nicht vorschreiben, wen sie heiraten sollen. „Aber schön fände ich es schon, wenn es ein gitano wäre."

Der schwierige Spagat zwischen Traditionen und modernem Leben spiegelt sich auch in Erziehungs­fragen wider. Mangotes Tochter María del Carmen besucht nicht nur die Grundschule in La Vileta, sondern geht - wie viele andere Gitano-Kinder aus dem Viertel - auch zum dort angebotenen Musikunterricht. Ob die Zwölfjährige ab Herbst eine weiterführende Schule besucht, sei allerdings nach wie vor ein Streitpunkt zwischen ihm und seiner mallorquinischen Frau. „Die Schulen hier haben keine Ahnung, wie man Mädchen unterrichtet", sagt Mangote -

und meint damit, dass María del Carmen dort Dinge erfahren könnte, die in der Gitano-Kultur nichts zu suchen haben. Etwa, dass ­vorehelicher Sex üblicher ist als ein Jungfräulichkeitstest mittels vaginal eingeführtem Stofftuch, wie ihn immer noch viele gitanos vor der Hochzeit praktizieren.

Ja, es gebe Traditionen, die man als moderne Frau hinterfragen müsse, sagt Carmen Azpelicueta, wohlwissend, dass es längst auch gitanas gibt, die aus dem typischen Rollenbild - früh heiraten, Kinder bekommen, sich um den Haushalt kümmern - ausgebrochen sind, um sich den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. „Manchmal führt das zum Bruch mit der Familie, in vielen Fällen wird so eine Entscheidung aber auch toleriert." Und in anderen Bereichen habe die Traditions­verbundenheit auch ihre schönen Seiten. „Sie haben sich im Gegensatz zu uns den Respekt vor der älteren Generation bewahrt."

Dass die patriarchalischen Strukturen innerhalb der Roma-Sippen Potenzial für Konflikte bieten, bestätigt auch María Rosa Serra, die als Gerichtspsychologin unter anderem mit Opfern häus­licher Gewalt zu tun hat. Das Phänomen sei zwar in Gitano-Kreisen keinesfalls weiter verbreitet als in der restlichen Bevölkerung, betont Serra. „Aber diese Frauen haben es wesentlich schwerer, sich aus einer bedrohlichen Lage zu befreien." Zum einen weil eine Trennung vom Clan-Chef abgesegnet werden müsse und nicht selten mit dem Verlust der Kinder einhergehe. Zum anderen weil die wenigsten Frauen am Ende tatsächlich Anzeige erstatten oder die Anzeigen auf Druck der Familie wieder zurückgezogen werden, um die Sache „zu Hause zu regeln". Und selbst wenn ein Gericht mal ein Kontaktverbot anordne, bleibe das meist folgenlos. „Viele gitanos akzeptieren unsere Gesetze nicht, natürlich auch deshalb, weil sie sich von unserem System diskriminiert fühlen", sagt die Psychologin. „Es ist einfach eine ganz eigene Welt."

In der sich auch Persönlichkeiten wie der in Mallorcas Gitano-Kosmos angesehene Geldverleiher Joaquín Fernández bewegen. Wegen Wucher, Erpressung und Entführung von Schuldnern wurde er erst vor ein paar Monaten vorübergehend festgenommen, die Staatsanwaltschaft fordert 19 Jahre Haft. Ein ähnliches Schicksal droht seinem Kollegen Antonio Arroyo Arroyo, Spaniens angeblich größtem Kredithai, gegen den inzwischen zahlreiche Madrider Gerichte ermitteln.

Auch Mangote kam schon ab und an mit dem Gesetz in Konflikt. 2013 verbrachte er sieben Monate im Gefängnis, nachdem er wohl ein paar Mal zu oft ohne Führerschein hinterm Steuer erwischt wurde. Dass er dabei Bekanntschaft mit Frank Hanebuth und anderen Mitgliedern der Hells Angels machte, erzählt er mit einem gewissen Stolz. Auch gerade liegt er wieder mit der Polizei im Clinch, nachdem sein Auto abgeschleppt wurde und seitdem konfisziert ist - angeblich nur, weil er keinen Parkschein gelöst hatte. Dass ihm die Schriftstücke zu dem Fall nur auf Mallorquinisch ausgehändigt werden, hält Mangote ebenso für diskriminierend wie die Tatsache, dass er des Gerichts verwiesen wurde, als er sich mit einer Anzeige zur Wehr setzen wollte.

Seine gute Laune verliert er über all dem Ärger trotzdem nicht - denn in einem ist der gitano sich sicher. „Wir sind glücklicher. Wir arbeiten das Nötigste, um zu leben, ihr payos dagegen lebt, um zu arbeiten."