50 Minuten, 100 Fragen - zum Strafgesetzbuch, zu Vorschriften zum Versammlungsrecht oder zur Parteienfinanzierung, dazu ein bisschen Sozial- und Waffenkunde. „Von den insgesamt 31 Themengebieten werden manche abgefragt, andere nicht", sagt Javier etwas verzweifelt. Der 21-Jährige aus Palma stellte sich am Samstag (6.2.) das dritte Jahr in Folge der Aufnahmeprüfung für die Beamtenlaufbahn bei der Nationalpolizei. Rund 19.000 Bewerber buhlten dabei um landesweit 1.300 Plätze. Ob es diesmal geklappt hat, wird Javier erst in zwei Wochen erfahren. „Im Schnitt schaffen es die Leute beim dritten Mal", hofft der Mallorquiner - der seit Herbst 2013 viel Zeit in die Vorbereitungen gesteckt hat. „Die letzten paar Monate war ich fast jeden Tag an die zehn Stunden in der Bibliothek." Sein Jurastudium habe er ziemlich vernachlässigt, und mit einem richtigen Job sei der Lernstress schon gar nicht vereinbar.

Nicht nur Polizeibeamte, sondern auch Richter, Staatsanwälte und Gerichtsmediziner, Ärzte und Krankenschwestern an öffentlichen Kranken­häusern, Lehrer an öffentlichen Schulen oder Briefträger und Feuerwehrmänner müssen in Spanien ein Auswahlverfahren namens oposiciones absolvieren. Hinzu kommen all die Angestellten des öffentlichen Dienstes auf kommunaler, re­gionaler oder nationaler Ebene: Sach­bearbeiter am Finanzamt oder bei der Seguridad Social, Beamte in den Ministerien, Verwaltungs­gehilfen in den Rathäusern und Gerichten, aber auch Putzfrauen, Gefängnisaufseher oder Lokführer. Für manche Stellen ist ein fachspezifischer Studien­abschluss Voraussetzung oder - wie bei Polizei und Feuerwehr - das erfolgreiche Absolvieren eines Fitnesstests im Vorfeld. Wo auch immer es aber im öffentlichen Dienst eine oposición zu überwinden gilt, wird deren Bestehen mit einer unbefristeten Stelle belohnt.

Die Sparpolitik des noch amtierenden Finanzministers Cristóbal Montoro hatte jedoch dazu geführt, dass in den vergangenen Jahren kaum mehr Stellen ausgeschrieben wurden. Von den Beamten, die in Ruhestand gehen, werden derzeit nur 50 Prozent ersetzt. Zahlreiche ­Posten versucht die Verwaltung zudem intern zu vergeben, so dass die Chancen für Neueinsteiger deutlich schrumpften. „Seit 2008 gab es auf Balearen-Ebene so gut wie keine Neuanstellungen", sagt Begoña Morey, Generalsekretärin im Ministerium für Finanzen und öffentliche Verwaltung. Für das Jahr 2017 sind nun erstmals wieder Aufnahme­prüfungen angekündigt - für etwa 500 Beamtenstellen im Gesundheitswesen, 400 im Bildungsbereich und rund 100 in der Balearen-Verwaltung, die aktuell zum Teil mit interinos, also befristetem Personal, besetzt sind.

Doch die fetten Jahre, in denen man mehr schlecht als recht vorbereitet zur Prüfung erscheinen und mit etwas Glück trotzdem einen von Hunderten lebenslangen Arbeitsplätzen ergattern konnte, sind längst vorbei. Das Verhältnis zwischen freien Stellen und Kandidaten hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend verschlechtert - zumal die Bewerberzahl angesichts der schlechten Jobaussichten in der

Privatwirtschaft immer größer wird. Um die oposición zu bestehen, sind deshalb immer bessere Ergebnisse nötig.

Georgina ist eine von spanienweit etwa 20.000 Personen, die im Mai die Aufnahmeprüfung als Verwaltungsangestellte in der Justiz machen werden. Sie habe erst im Oktober mit dem Lernen angefangen, erhoffe sich aber einen Wissensvorsprung aus ihrem Kriminalistikstudium, erzählt die junge Frau aus Palma - wobei die Chancen mit etwa 1:172 alles andere als gut stehen. Sollte es nicht klappen, würde sie ein weiteres Jahr ausschließlich der Prüfungsvorbereitung widmen, zumal es 2017 mehr Stellen geben soll. „Ich habe eine Zeit lang im Gefängnis gearbeitet, aber mit meinem Abschluss ist es sehr schwer, einen Job zu finden." Deshalb wolle sie es nun beim Staat versuchen. „Das sind unbefristete Stellen, da könnte ich endlich beruhigt sein." Wie eine Arbeitslose fühlt sich Georgina allerdings auch jetzt nicht. Montags bis freitags sitzt sie bis spätabends in der Bibliothek. „Es ist wichtig, eine Routine zu haben, aufzustehen, zu duschen, aus dem Haus zu gehen."

Für zusätzliche Struktur im Lern­alltag sorgen spezielle Akademien, die die Prüflinge bei der Vorbereitung unterstützen. In Madrid gibt es sogar Wohnheime für opositores, inklusive Rundum-Verpflegung und Wäscheservice, wo diese ungestört pauken können. „Dass man sich zwei Jahre lang auf eine oposición vorbereitet, ist keine Seltenheit", sagt Carlos Bárcena, Gründer der gleichnamigen, seit 38 Jahren in Palma ansässigen Akademie - der pro Schüler und zwölf Unterrichtsstunden im Monat rund 100 Euro nimmt. „Das muss man wie einen Vollzeit-Job sehen, acht bis zehn Stunden Lernen am Tag sind nötig." Gerade aber auf Mallorca sei es mit der Lernkultur nicht allzu weit her, beklagt Bárcena. „Deshalb wimmelt es hier nur so von Galiciern." Diese seien zumindest früher, als noch haufenweise Plätze ausgeschrieben wurden, ebenso wie Festlandspanier aus anderen ­Regionen bestens vorbereitet auf die Insel gekommen und hätten die einheimische Konkurrenz um Längen geschlagen, wenn es um Beamtenstellen des Staates ging, für die keine Katalanischkenntnisse nötig sind. Heute nehme die Bewerberschar die Prüfungen wesentlich ernster und investiere auch gerne in die Vorbereitungskurse, erzählt Bárcena - der dennoch das Nachsehen hat: Vor der Krise zählte seine Akademie fünf Filialen, heute ist gerade mal noch eine übrig.

Auch Alfonso Morales von der Akademie MasterD hat die Einstellungsstopps im öffentlichen Dienst zu spüren bekommen - allerdings hatte die Flaute auch einen Vorteil: Während der mageren Jahre hätten sich manche Interessenten gleich für drei Jahre bei ihm angemeldet - nach dem Motto ´ich lerne mal, und sobald Stellen ausgeschrieben werden, mach´ ich die Prüfüng´. „Manche waren da gar nicht mehr wählerisch." Vor den Wahlen im vergangenen Jahr kam nun wieder Bewegung in die Sache. „Es soll oposiciones für Finanzbeamte, Lehrer, Feuerwehrleute geben", freut sich Morales. Damit sie immer auf dem aktuellen Stand sind, durchforste seine Kollegin regelmäßig das spanische Amtsblatt BOE nach neuen Ausschreibungen. Sobald sie etwas entdecke, beginne die Akademie mit der Aktualisierung des Lehrmaterials und biete die entsprechenden Kurse an.

Vor zwei Jahren und vier Monaten hat Aitor mit dem Lernen begonnen. Anfangs zu Hause, doch da lenkte ihn zu vieles ab. Seitdem verbringt er sechs Tage die Woche, mindestens acht Stunden täglich, in der Bibliothek Sa Riera in Palma. „An Weihnachten und im Sommer nehme ich mir eine Woche frei", sagt der 25-Jährige, der bereits einen Uni-Abschluss in Jura in der Tasche hat und sich nun auf die Aufnahmeprüfung für Richter und Staatsanwälte vorbereitet. Mit manchen der 320 Themengebiete hat Aitor sich noch nicht einmal befasst, doch im März will er es zum ersten Mal versuchen mit dem 100 Fragen umfassenden Wissenstest zum Ankreuzen, dem sich in Madrid gut 3.800 Kandidaten ­stellen. Die besten 1.100 kommen in die nächste Runde - bis am Ende 100 übrig bleiben, die auf die 2016 spanienweit ausgeschriebenen 65 Richter- und 35 Staatsanwaltsstellen verteilt werden. Allzu optimistisch ist Aitor nicht. „Ich brauche vermutlich noch mehr Zeit. Die Konkurrenz ist groß, die meisten schaffen die Prüfung erst nach vier oder fünf Jahren." Manchmal würde er die ganzen Gesetzestexte und Paragrafen am liebsten in die Ecke schleudern, weil ihm alles aussichtslos erscheint. Doch dann denke er an sein Ziel, seinen Traumberuf. „Ich möchte dieses Land

ein bisschen gerechter machen", sagt Aitor.

Die Richterprüfung gilt als eine der schwersten. Mehr Ausdauer brauchen angeblich nur die Anwärter auf die Justiziarstellen im Staatsrat, ein beratendes Organ der spanischen Regierung. In Krisenzeiten gehört ein- oder mehrmaliges Durchfallen aber längst auch bei Kandidaten, die eine simple Beamten- oder Polizeilaufbahn anstreben, zum Programm. Scherzhafte Kommentare in Internetforen über das síndrome del opositor, das sich unter anderem durch Gesichtsblässe, Magenprobleme und das früher oder später eintretende Single-Dasein bemerkbar mache, werden nicht selten bitterer Ernst: Der Mangel an Sozialkontakten und der ständige Frust endet für so manchen Prüfling mit dem Gang zum Psychologen.

Jaume Sureda, Pädagogikprofessor an der Balearen-Universität hält die oposiciones für Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert. „Da wird Wissen abgefragt, das in unserer digitalisierten Welt überhaupt keinen Nutzen hat, da man all diese ­Informationen in Sekundenschnelle im Internet abrufen kann." Statt Gesetzestexte oder medizinische Begriffe herunterzubeten, sollten Kandidaten vielmehr erklären können, wo diese herkommen und wie sie anzuwenden sind. Zudem würden soziale Kompetenzen und persönliche Stärken überhaupt nicht berücksichtigt. „Wollen wir unsere Fachkräfte weiterhin mittels Tests auswählen, in denen auswendig Gelerntes wiedergegeben wird?", fragt sich Sureda, der hierbei auch an die Auswahlprüfungen für ­Mediziner denkt, die vor der vierjährigen Facharztausbildung MIR zu bestehen sind. „Ein Streber ist nicht zwangsläufig ein guter Arzt oder Richter", sagt der Pädagoge. Zumal es weder der persönlichen Entwicklung, noch der Volkswirtschaft des Landes zuträglich sei, wenn sich junge Leute jahrelang von der Außenwelt abschotten, um auf eine Prüfung zu lernen.

Carmen hat Pharmazie studiert. Ihr Ziel ist aber die Forschung, ­Mikrobiologie genauer gesagt. Erster Schritt dorthin ist ein FIR in einem staatlichen Krankenhaus. „Das ist wie die Facharztausbildung, nur eben für Pharmazeuten", erklärt die 25-Jährige, die am Samstag (6.2.) zum zweiten Mal die hierfür erforderliche Aufnahmeprüfung abgelegt hat. „Es lief ganz gut", glaubt sie. Angesichts der 218 Plätze und rund 1.500 Bewerber stünden die Chancen gar nicht so schlecht. „Ich habe das von Anfang an ernst genommen und durchgezogen", erklärt die Mallorquinerin. In den zwei Jahren Vorbereitung habe sie nur für ein paar Monate gearbeitet, den Rest verbrachte sie montags bis samstags in der Bibliothek. Sollte es klappen, kann Carmen in ein beliebiges spanisches Lehrkrankenhaus geschickt werden. „Granada wäre mein Traum, aber Hauptsache überhaupt ein Platz", sagt sie - wohlwissend dass ihre Stelle auf vier Jahre begrenzt ist. „Ich bekomme keinen Job auf Lebenszeit so wie die meisten anderen, die hier lernen."

Dass gerade in Justizkreisen, aber auch in anderen Berufsverbänden stur an den oposiciones festgehalten wird, liegt Jaume Sureda zufolge am mutmaßlichen Prestige, den das Bestehen einer so schwierigen Prüfung der Berufsgruppe beschert. „Das ist aber dummes Elitengehabe, wenn man sich einmal vor Augen führt, um was es in diesen Tests geht." Für ebenfalls verbesserungswürdig, aber nicht ganz so unzeitgemäß wie etwa die Richterprüfungen hält Sureda das Auswahlverfahren für angehende Lehrer. Neben einem theoretischen enthalten diese auch einen praktischen Teil, in dem beispielsweise eine Unterrichtsstunde ausgearbeitet werden muss. „Anschließend müssen die Kandidaten eine mehrmonatige Probephase an einer Schule absolvieren, wobei ich nicht wüsste, dass die jemand mal nicht bestanden hätte", sagt der Pädagoge - der überzeugt ist, dass sich das in Spanien weit verbreitete Auswahlverfahren früher oder später ändern muss.

Auf die Kritik von Jaume Sureda angesprochen, entfährt Begoña Morey vom Finanzministerium erst einmal ein Lacher. „Das war doch schon immer so." Außerdem gebe es keine andere Möglichkeit, um auf neutrale Weise die Besten für den öffentlichen Dienst auszuwählen, sagt die Verwaltungsexpertin - gerät dann aber doch ins Grübeln. Wer sich für eine Beamtenstelle bei der Europäischen Union bewerbe, müsse Vorstellungsgespäche und Persönlichkeitstest durchlaufen, fällt ihr auf einmal ein. Wäre das nicht auch etwas für Spanien? „Das ist ein hehres Ziel, aber ich fürchte, davon sind wir noch weit entfernt." Bis auf Weiteres, daran hat Morey keine Zweifel, werde es deshalb oposiciones geben.