Sie heißen Margarita Sampol, Raquel Díaz oder Miguel Navarro und sind Durchschnitts-Mallorquiner. Und sind doch etwas Besonderes. Sie gehören zu einer Minderheit: Sampol, Díaz und Navarro sind Protestanten, wie 0,3 Prozent der spanischen Bevölkerung. Auf den Balearen sind es 2.000 bis 2.500, schätzt Miguel Navarro, ehrenamtlicher Pastor und Vorsitzender des Cedib, des Verbandes der evangelischen Kirchen auf den Balea­ren (Consell Evangèlic de les Illes Balears).

Zur deutschsprachigen evangelischen Gemeinde gibt es keinen Kontakt, wegen der Sprache und auch weil die Gemeinden des Cedib nicht der traditionellen evangelischen Kirche, sondern freikirchlichen oder evangelikalen Strömungen angehören (siehe Kasten). Auch an ökumenischen Projekten nimmt der Cedib nicht teil. „Die Unterschiede etwa zur katholischen Kirche sind zu groß", sagt Andrés Birch von der baptistischen Gemeinde in Palma. „Es bringt nichts, Einigkeit vorzutäuschen."

Opfer des Katholizismus

Die Geschichte der Protestanten in Spanien liest sich wie ein historisches Drama. Wer bislang nur an Juden und Moslems als Opfer der Inquisition und des National-Katholizismus dachte, der hat sich geirrt. Auch die Anhänger der reformierten christlichen Kirche wurden diskriminiert, vertrieben, verbrannt. Vom 15. bis zum 19. Jahrhundert war in Spanien nur die katholische Religion zugelassen, und auch während der Franco-Diktatur (1939 bis 1975) war sie die herrschende Konfession.

„Heute leben wir unseren Glauben in Freiheit", sagt Miguel Navarro, dessen Familie seit drei Generationen evangelisch ist. „Früher waren wir die Bösen." Aber die Folgen jahrhundertelanger Diskriminierung sind heute noch spürbar. Viele Spanier halten Protestanten für komisch. Doch daran könnte sich jetzt etwas ändern. 2017 jährt sich zum 500. Mal der Beginn der Reformbewegung: Am 31. Oktober 1517 soll Martin Luther seine 95 Thesen zur Erneuerung des christlichen Glaubens an das Portal der Schlosskapelle von Wittenberg genagelt haben.

Das Jubiläum wollen auch Mallorcas Protestanten nutzen. Eine dreiköpfige Kommission bereitet das Programm vor und will dabei Berührungsängste abbauen. Das dürfte nicht einfach werden. „Viele Spanier lehnen alles ab, was mit Religion oder Kirche zu tun hat", sagt die 52-jährige Margarita Sampol.

Davon ist an diesem Sonntagvormittag nichts zu spüren. Die große braune Tür des einstöckigen, schmucklosen Gebäudes im Carrer Murillo, mitten in Palmas Santa-Catalina-Viertel, steht weit offen. Hier, in der Iglesia Cristiana Evangélica, der zweitgrößten und zugleich ältesten evangelischen Gemeinde der Insel - es gibt sie schon seit 148 Jahren - treffen sich Anhänger der charismatischen Strömung. Früher war die Gemeinde methodistisch. Die Kirche stammt aus den 50er-Jahren. Offiziell errichtete man sie als Mehlfabrik - aus Furcht, keine Baugenehmigung zu bekommen.

Das Viertel ist ruhig, es fahren kaum Autos, Bars und Restaurants sind geschlossen. Die meisten Menschen auf der Straße biegen hier, bei der Nr. 8, ab. Sie gehen über den sonnigen Vorhof, vorbei an einem begrünten, plätschernden Brunnen, verschwinden unter dem Schild „Templo Evangélico" im Dunkel des großen Raumes. Dort setzen sie sich auf eine Bank. Vorne hängt ein großes Holzkreuz an der Wand. Auf der niedrigen Bühne stehen junge Frauen und Männer. Sie singen und spielen Schlagzeug, E-Bass und -Gitarre, Mikros und Verstärker stehen herum.

Komm, lasst uns singen

Die Melodien sind eingängig, die Texte einfach. Sie werden auf eine Leinwand neben dem Kreuz projiziert. Ein dunkelhäutiger Vorsänger hebt beim Refrain die Stimme, singt mit Hingabe ins Mikro. Rund 300 Menschen singen „Mi Salvador me rescató" (Mein Retter hat mich erlöst), „Cristo, gozamos de tu amor" (Christus, wir genießen deine Liebe) oder „Grandes cosas Dios hará" (Gott wird Großes tun). Viele schließen die Augen, lächeln, heben die Arme, bewegen ihren Körper. Die Stimmung ist gut, fast euphorisch. Hier und da erklingt ein spontanes „Halleluja" im Publikum.

Miguel Navarro ist der Pastor der Gemeinde. Er steht zunächst in der ersten Reihe, singt mit geschlossenen Augen. Nach einer guten halben Stunde tritt er ans Rednerpult und liest aus dem Alten Testament vor. Es geht um den Propheten Habakuk. Dann betritt der Prediger dieses Sonntags die Bühne und vermittelt den Anwesenden seine Gedanken zu den Bibelworten. Nach eineinhalb Stunden endet der Gottesdienst mit Applaus. Abendmahl gab es keines. Das finde nur einmal im Monat statt, erklärt Navarro später. „Wir wollen den Ablauf so wenig wie möglich ritualisieren." Die Gemeinde solle den Gottesdienst möglichst nah und lebendig erleben.

Tatsächlich wirken die Menschen erfüllt vom Gemeinschaftserlebnis und vom Optimismus der Liedtexte. Sie treten auf den sonnigen Vorplatz, reden und lachen, fühlen sich offensichtlich gut aufgehoben. Die Mitglieder treffen sich auch unter der Woche, zu Gebetskreisen, Besuchen im Gefängnis oder Frauengesprächen: Spanier, Afrikaner und Latinos finden hier zusammen.

Menschen aus rund 40 Nationen gehören in Spanien einer der knapp 3.000 evangelischen Kirchengemeinden an. Deren Zahl hat sich seit der Jahrtausendwende verdoppelt. Das liegt weniger an der Sinnsuche der Spanier als an der Einwanderung aus Lateinamerika. Dort ist die evangelische Religion weit verbreitet. „Die Zuwanderer haben uns bereichert", sagt Navarro. „Sie bringen Enthusias­mus und Engagement mit." Viele konvertieren auch erst in Spanien, denn die evangelischen Gemeinden erleichtern ihnen die Integration.

Gemeinschaft in der Fremde

Für Ana Vitorino aus der Dominikanischen Republik und ihre beiden Kinder ist die Gemeinde Lebensmittelpunkt. Die ehemalige Katholikin kam vor sieben Jahren im Rahmen einer Familienzusammenführung. Als sie auf Mallorca angelangt war, verließ der Mann die Familie. Ana suchte einen Ausweg aus ihrer Depression und wurde in die evangelische Gemeinde eingeladen. Hier entdeckte sie ihren Glauben neu und wurde integriert. Ihre Kinder haben in der Gemeinde Freunde gefunden und Selbstbewusstsein entwickelt. „Die Gesellschaft hilft dir nicht, sie erschwert dir das Leben eher", sagt die 42-Jährige. „Mir haben die Christen geholfen." Ana geht regelmäßig zum Frauenkreis, wie auch Margarita Sampol und Raquel Díaz. Sampol hat für das kommende Treffen ein Gespräch über Luther vorbereitet.

Die 52-jährige Englischlehrerin hat sich eingelesen und entdeckt, wie „weitreichend die Revolution war, religiös, gesellschaftlich, politisch". Hier in Spanien sei die Botschaft in ihrer ganzen Tragweite nicht angekommen, findet sie. Beim Kampf für soziale Gerechtigkeit, bei ehrenamtlichem Engagement oder bei der Einstellung zur Arbeit zum Beispiel gäbe es noch viel zu tun: „Hier in Spanien empfinden viele die Arbeit als Last", sagt Sampol, „wir sollten sie als Dienst am Nächsten sehen." Für Sampol ist Luthers Erbe auch das: „Ein verzeihender, liebender Gott setzt im Menschen mehr Energie und Kraft frei als einer, der uns straft und droht." Ihre Eltern hätten in den 50er-Jahren die Konfession gewechselt, weil sie spürten, „dass ihnen Messen auf Latein nichts mehr geben konnten".

Raquel Díaz nickt zustimmend. Ihre Familie ist seit fünf Generatio­nen protestantisch. Viele Mallorquiner lernten die Konfession im 19. Jahrhundert kennen, als evangelische Ingenieure aus Großbritannien kamen, um die Feuchtgebiete rund um die Albufera trockenzu­legen. Andere wechselten schon im 18. Jahrhundert die Glaubensrichtung, weil sie die Religiosität der Briten auf Menorca beeindruckte. Raquel Díaz´ Vorfahren wurden noch mit dem bösen Blick bedacht und mussten sich heimlich treffen. Heute sei all das überwunden, findet die 54-jährige Köchin. „Im Gegenteil", sagt sie, „viele Menschen kommen mit ihren Problemen zu mir und freuen sich über ein tröstendes Wort."