Antoni Riera rattert zu Beginn des Gesprächs erst einmal jede Menge Zahlen herunter. Der Lehrstuhl­inhaber für angewandte Ökonomie an der Balearen-Universität (UIB) scheint die Urlauberrekorde und andere Wirtschaftsdaten des vergangenen Jahres alle im Kopf zu haben, so rasant geht die Reise durch den Zahlendschungel. Klar ist: Die Urlauber fliegen auf Mallorca und die Nachbarinseln, rund 11 Prozent mehr waren es im Vergleich zum Vorjahr. Und sie gaben 10,3 Prozent mehr Geld aus. Alles super also? Urlauberboom ist gleichbedeutend mit wirtschaftlicher Blüte und wohlhabenden Einheimischen? Ganz so einfach ist die Rechnung nicht. Das sagt Riera, nachdem er kurz Luft geholt hat. Aber nicht nur er.

Vorab: Es ist äußerst mühsam, verlässliche Belege für die eine oder die andere These zu finden. Es gibt keine Statistik, die einen Zusammenhang zwischen den Urlauberzahlen und dem Wohlstand der Balearen-Bewohner herstellt - ein Problem, mit dem auch viele Wissenschaftler auf den Inseln kämpfen. Tourismus-Geograf Ivan Murray von der Balea­ren-Universität (UIB) verzweifelt regelmäßig an den unvollständigen Statistiken. „Selbst die Zahlen des nationalen Statistikinstituts sind oft eine Katastrophe", sagt er.

Die Ausgangslage

Kämpfen wir uns also Schritt für Schritt voran. Zunächst einmal: Die Balearen waren im Jahr 1997 die spanische Region mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen und galten als reichste Gegend des Landes. „Das ist lange Vergangenheit", sagt Wirtschaftswissenschaftlerin Maria Tugores von der UIB. „Und: Jahr für Jahr geht es ein Stückchen weiter runter." Das Pro-Kopf-Einkommen berechnet sich aus der Umlegung des Bruttosozialprodukts auf die sich verändernde Einwohnerzahl.

Immer mehr Urlauber bringen also nicht notwendigerweise mehr Wohlstand, noch nicht einmal den rund 160.000 direkt im Tourismus beschäftigten Personen. So sieht das auch Antoni Riera. Er hat sich die Entwicklung des Pro-Kopf-Einkommens genauer angeschaut. „Es ist zwar im Jahr 2015 um 2,3 Prozent gestiegen, was aber weniger war als der spanische und auch der europäische Durchschnitt", sagt er. Das so errechnete ­durchschnittliche ­Einkommen einer Erwerbsperson betrug demnach auf den Inseln im Jahr 2015 (neuere Zahlen gibt es noch nicht) 24.108 Euro, womit es noch über dem spanischen Durchschnitt von 23.178 Euro lag (Europa: 28.900, Deutschland: 37.935).

Das Wirtschaftswachstum lag auf den Balearen 2016 mit 3,8 Prozent deutlich über dem in Europa (1,8 Prozent) und Deutschland (1,9 Prozent). Aber das Wachstum kommt nicht im Geldbeutel der Leute an.

Die Kaufkraft nimmt ab

Einen der Gründe, warum das so ist, erklärt ein Sprecher des Arbeitsministeriums. Er verweist auf eine aktuelle Untersuchung des Ministeriums. Darin werden die Kosten pro Arbeitsstunde auf den Inseln ins Verhältnis zur Teuerungsrate betrachtet. Eine erste, im Mai veröffentlichte Auswertung zeigt, dass die Balearen-Bürger zwischen 2009 und 2016 rund 3,7 Prozent ihrer Kaufkraft eingebüßt haben. Zwar stiegen die Arbeits­kosten pro Stunde zwischen 2009 und 2016 um 5,15 Prozent, die Teuerungsrate lag in derselben Zeitspanne aber bei 8,85 Prozent.

Vor allem der Wohnungsmarkt hat sich auf den Inseln in den ­vergangenen Jahren zu einem echten Albtraum für die Einheimischen entwickelt. Ferienvermietung und die anhaltende Beliebtheit der Inseln als Zweitwohnsitz für wohlhabende Nord- und Mitteleuropäer haben zu regelrechten Preisexplosionen auf dem Immobilienmarkt gesorgt, vor allem bei Mietwohnungen.

Noch mehr besorgniserregende Zahlen? Bitte: Laut der balearischen Statistikbehörde Ibestat hat sich der Prozentsatz der Menschen auf den Inseln, die Schwierigkeiten haben, mit ihrem Geld bis zum Monatsende zu haushalten, innerhalb von sechs Jahren fast verdoppelt. Waren es 2007, vor der Krise, 15,9 Prozent der Haushalte, stieg diese Zahl bis 2013 auf 32,4 Prozent. Die Gefahr, in die Armut abzurutschen, nahm seit 2009 (24,3 Prozent) ebenfalls zu und lag 2016 bei 27,8 Prozent. Daran ist natürlich nicht der Tourismus schuld, sondern vor allem die

Wirtschaftskrise. 40.000 Arbeitsplätze seien allein in der Baubranche weggefallen, erklärt Murray.

Dass der Urlauberboom die prekären Zustände in vielen Familien nicht lindern kann, stellen Wohltätigkeitsverbände Tag für Tag fest. In der Krise stieg die Zahl der Menschen, die etwa die Hilfe von Essens­ausgabestellen in Anspruch nahm, sprunghaft an. Aber auch jetzt, nach mehreren Rekordsommern und dem Wiederanspringen der Konjunktur, habe sich die Zahl der Hilfsbedürftigen kaum verringert, berichtet Ana Espinosa vom Roten Kreuz. Und es kämen immer mehr Menschen zu ihr, die sogar einer geregelten Arbeit nachgehen.

Gehälter sind nicht alles

Manch einer hält die Fokussierung auf das persönliche Einkommen für zu kurz gegriffen. Josep Ignasi Aguiló ist einer von ihnen. Er war zwei Jahre lang Finanzminister unter PP-Premier José Ramón Bauzá (2011-2015) und sagt: „Wir leben mit den gestiegenen Urlauberzahlen ungleich besser als früher." Wenn er auf seine Kindheit in den 70er-Jahren zurückblicke, dann komme ihm die Insel aus heutiger Sicht wie ein Entwicklungsland vor. „Schauen Sie sich mal die Universität oder unsere Krankenhäuser an. All das wurde mit dem Wohlstand erbaut, den der Tourismus hinterlassen hat. Die reinen Gehälter sind doch nicht alles." Davon abgesehen seien diese in Spanien in absoluten Zahlen seit den 90er-Jahren deutlich stärker als in anderen EU-Ländern gestiegen.

Vor den Tarifverhandlungen

Zu wenig, finden die Gewerkschaften. In einem halben Jahr wollen sie bei den Tarifverhandlungen mit dem Hotel- und Gaststättengewerbe für hohe Zuwächse kämpfen. In den vergangenen vier Jahren gab es da gerade einmal 1,125 Prozent pro Jahr. Der Tarifvertrag läuft im März 2018 aus, verhandelt wird ab Jahresende 2017. Von 20 Prozent Lohn­erhöhungen über die kommenden vier Jahre gesehen sprechen manche. Gegenüber der Presse will das Silvia Montejano von der Gewerkschaft CCOO nicht bestätigen. „Sonst könnte es leicht zu einer Enttäuschung kommen." Doch man werde sich nicht mehr so einfach abspeisen lassen wie 2014.

Argumente für eine ordentliche Gehaltssteigerung liefert ihr Murray mit einer Studie von Ibe­stat. Demnach ist die Rentabilität der Hotelzimmer auf den Inseln in nur wenigen Jahren stark gestiegen. 2009 brachte eine Nacht in einem Hotelzimmer dem Hotelier im Schnitt 42,10 Euro ein. 2015 waren es schon 67,90 Euro - und nur ein Jahr später bereits 75,50 Euro. 2014 seien 20 Prozent des Geschäftsvolumens der Hotels Gewinne gewesen.

Die Sprecherin der Hoteliers­vereinigung FEHM, Inma de Benito, sieht das naturgemäß etwas anders und würde am liebsten den bestehenden Tarifvertrag verlängern. Viele der Angestellten könnten sich ohnehin auf höhere Zuwächse einstellen, da durch die weitverbreiteten Investitionen in die Häuser viele Hotels ihre Kategorie angehoben haben. „Wer statt bisher in einem Drei-Sterne-Haus nun in einem Vier-Sterne-Hotel arbeitet, der bekommt ­selbstverständlich auch die ausgehandelten Zuschläge", sagt sie der MZ.

Alles muss man kontrollieren

Wirklich? Der Tarifvertrag garantiert zunächst einmal das Gehaltsplus. So verdient etwa ein Zimmermädchen, das in einem Drei-Sterne-Hotel arbeitet, 1.295,92 Euro an Grundgehalt. Dazu kommen noch Aufstockungen für den Transport, Kleidung und sonstige Zuschläge. Das Grundgehalt in einem Vier- oder Fünf-Sterne-Haus beträgt 1.324,22 Euro. Der Unterschied ist nicht die Welt, doch selbst angesichts der nur knapp 30 Euro müsse man wie ein Luchs aufpassen, dass das Geld tatsächlich bezahlt werde, berichtet Silvia Montejano. Ihr Vorgänger Ginés Díaz habe nicht weniger als 35 Hotels anzeigen müssen, weil diese nicht die Gehaltserhöhung automatisch angewandt hätten.

Trotzdem: Die Bezahlung sei nicht so sehr das Problem im Tourismus, glaubt Inma de Benito. Vielmehr die Unternehmen, die auf den Balearen ihr Geld verdienen und es außer Landes schaffen. „Das war für Spanien schon immer ein großes Dilemma für. Es gibt zu viele Vermittler, wie etwa Reiseveranstalter, die hier kaum oder gar keine Steuern zahlen und auch sonst mit ihren Gewinnen nichts für die Gemeinschaft tun."

In diesem Punkt gibt Ivan Murray der FEHM-Sprecherin de Benito durchaus recht, fügt aber an: „Es sind nicht nur die ausländischen Unternehmen - auch die großen mallorquinischen Hotelketten ziehen Geld in Steuerparadiese ab." Beleg dafür ist etwa das Auftauchen der Namen Escarrer (Meliá) und Riu in den sogenannten Panama Papers.

Monokultur als Streitpunkt

Doch was tun? Der Tourismus ist nun mal die Haupteinnahmequelle für die Inseln. Die Branche ist laut Exceltur unmittelbar für 45,5 Prozent des Bruttosozialprodukts auf den Balearen verantwortlich, viermal so hoch wie im spanischen Durchschnitt (Zahlen für 2013).

Ein Schlüssel dürfte die Debatte um die touristische Monokultur der Balearen sein. Ivan Murray hat eine klare Meinung: „Das ist Selbstmord!" Die Balearen wollten immer nur über mehr Touristen wachsen. „Das geht natürlich irgendwann nicht mehr", stimmt Riera bei. Denn man könne vielleicht noch ein, zwei Millionen Touristen mehr pro Jahr aufnehmen, aber dann sei Schluss. „Wir müssen das Tourismusmodell dringend verändern, hin zu mehr Qualität, vor allem aus Gründen der Nachhaltigkeit", fordert Riera. So würden Gesellschaft und Umwelt gewinnen.

Riera plädiert, ähnlich wie Murray, für eine Diversifizierung der mallorquinischen Wirtschaft - mehr andere Branchen mit mehr Wachstumspotenzial. Josep Aguiló, Kollege an der UIB und Finanzminister unter José Ramón Bauzá, hält von derlei Überlegungen gar nichts. „Es ist ein Riesenfehler, jetzt fieberhaft Alternativen zu suchen. Jedes kleinere Land, so wie es Spanien ist, muss sich spezialisieren, und wir müssen uns eben auf den Tourismus spezialisieren. Das ist das, was wir können." Spanien und erst recht die Balearen kämen unter die Räder, wenn sie nun Dinge täten, bei denen andere Länder längst meilenweit voraus seien.

Ivan Murray kommt zu einem anderen Schluss: „Der Tourismus macht uns auf die Dauer arm. Wir müssen uns neu erfinden."