In der Berggemeinde Escorca in der Tramuntana geht es ruhig zu, zu ruhig. Seit Jahren versucht das Rathaus mit finanziellen Anreizen, die Menschen davon zu überzeugen, eines der leer stehenden Anwesen im weitläufigen Gemeindegebiet zu erwerben. Rund 230 Einwohner leben hier - und jedes Jahr werden es weniger. „Wir brauchen neue Bürger, finden aber keine", klagt Bürgermeister Antonio Solivellas.

50 Kilometer entfernt, im Zentrum von Manacor, freut sich Einzelhändler Biel Carrió jedes Mal darüber, wenn ein neuer Kunde seinen traditionellen Spezialitätenladen betritt. „Einer am Tag ist mein Ziel", sagt er. Er würde sich über mehr Touristen freuen. „Seit zwei, drei Jahren kommen ein paar. Aber das sind nicht genug. Die Politik sollte sich mehr darum bemühen", findet er.

In Palma fasst sich derweil Joan Fortesa vom Anwohnerverband an die Stirn. „Die Stadt ist einfach zu voll. Selbst in der Nebensaison macht einem der Besucherandrang zu schaffen, und die Wohnungen sind rar."

Drei Orte auf Mallorca, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. „Mallorca, die Insel der Vielfalt", loben viele Reiseführer. „Mallorca, die Insel, in der sich fast alles auf Palma fokussiert", würde es ebenso treffen. Besonders deutlich wird das jedes Jahr im Winter, wenn in den touristischen Küstenorten die Bürgersteige hochgeklappt werden, der Verkehr in und um die Inselhauptstadt aber weiterhin fast täglich kollabiert. Wenn die Urlauberkneipen und Feiertempel in Magaluf, Cala Ratjada, Alcúdia und Co. in den Winterschlaf verfallen und sich das Nachtleben der Insel fast ausschließlich auf Palmas Zentrum beschränkt. Wenn die Menschen Weihnachtsgeschenke kaufen oder am Black Friday auf Schnäppchenjagd gehen wollen und in Scharen in die Hauptstadt strömen.

Nicht dass es nicht auch andere Einkaufsmöglichkeiten auf der Insel gibt, die Shopping ohne Verkehrschaos, teure Parkgebühren und Gedränge wie in Palmas Straßen garantieren. Aber Palma ist nun einmal Palma. Palma ist das Paris Mallorcas. Die Industrie, die Politik, die Kultur, die Freizeitmöglichkeiten, der Flughafen, die Einkaufszentren, der Fährverkehr zum Festland, die Behörden, die medizinischen Spezialisten - fast alles konzentriert sich auf die Hauptstadt.Eine strategische Lage

„Das war eigentlich schon immer so", weiß Geschichtsprofessorin María Barceló von der Balearen-Universität. Schon im Jahr 1023 vor Christus wählten die Römer die Bucht im Süden der Insel aus, um dort eine Siedlung zu errichten.

„Sie wählten diesen Ort nicht zufällig: Er liegt genau im Zen­trum des geschützten natürlichen Hafens und ist eine Schnittstelle der Routen zum spanischen Festland, nach Frankreich, Nord­afrika und Sardinien." Die großen Grundwasserspeicher um Palma taten ihr Übriges, sodass auch die Mauren im Jahr 902 n. Chr. die Stadt zur Hauptstadt machten, damals unter dem Namen „Madina Mayurca" - Stadt von Mallorca.

Bis heute ist das in den Köpfen der Insulaner verankert. Umgangssprachlich und auch in der regionalen Presse wird Palma oft nur „Ciutat" (Stadt) genannt, abzugrenzen von der „Part Forana", dem „Außenteil", dem ganzen Rest also, der sich außerhalb der ehemaligen Stadtmauern befand.Das Maß aller Dinge

Dass Inca und Manacor mit 40.000 und 31.000 Einwohnern offiziell auch Städte sind, ist hierbei unerheblich. Wer in die Stadt fährt, fährt nach Palma. Dabei ist Palma mit seinen gut 400.000 Einwohnern für deutsche Verhältnisse nicht übermäßig groß, für die Insulaner jedoch oft das Maß aller Dinge. Immerhin lebt die Hälfte der mehr als 800.000 Bewohner der Insel hier, hinzu kommen täglich viele Zehntausend Pendler, die in Palma arbeiten. Zahlen, die laut dem Leiter der Gebietsbehörde im Inselrat, Miquel Vadell, kontinuierlich steigen. Noch vor knapp 20 Jahren lebten nur gut 600.000 Menschen auf der Insel. Seitdem kommen jährlich rund 8.000 neue hinzu. „Und fast alle wollen nach Palma", sagt Miquel Vadell. Nach Palma oder Umgebung, sprich: Marratxí, Bunyola, Esporles.

Die Touristen tun ein Übriges - zumindest ein Tagesausflug in die Inselhauptstadt gehört fast immer zum Mallorca-Urlaub. „Allerdings steigt die Zahl der Residenten prozentual stärker an als die der Urlauber", so Miquel Vadell. Er weiß: „Die Kapazitäten der Inselhauptstadt sind ausgeschöpft, die Stadt ist am Limit."

Große Pläne

Dezentralisierung ist das neue Zauberwort, das Vadell und seine Kollegen im Inselrat immer wieder in den Mund nehmen. Eine Überarbeitung des Bodenordnungsplans soll Anfang 2018 verabschiedet werden. Dafür sollen jegliche als Bauland ausgewiesene, aber noch nicht bebaute Zonen auf der Insel unter die Lupe genommen werden. Auf denjenigen, die in und um Palma liegen, soll nach Möglichkeit kaum noch Wachstum zugelassen werden. „Stattdessen wollen wir auf Inca und Manacor setzen", so Vadell. Ein neuer Plan zur Verteilung des Einzelhandels wird mit ähnlicher Ausrichtung voraussichtlich am 14. Dezember verabschiedet.

Autobahnen für Pendler

„Vor allem die Anbindungen sind wichtig. Zu versuchen, Menschen in andere Gegenden der Insel zu locken, ist nur dann sinnvoll, wenn sie auch leicht dorthin kommen können", sagt Vadell. Im besten Fall mit dem öffentlichen Nahverkehr. Vieles verändert haben bereits die Inca-Autobahn (Ausbau im Jahr 2005) und die Manacor-Schnellstraße (Ausbau im Jahr 2006). Die Zuglinien nach Inca und Manacor sind ebenfalls aufgestockt worden. Für das kommende Jahr plant die Landesregierung zudem eine Neuordnung des Nahverkehrs. Neue Linien und häufigere Taktung sollen den Nahverkehr um knapp 50 Prozent ausbauen (MZ berichtete).

Allerdings: Je besser die Anbindung von Palma in die Dörfer ist, desto besser ist im Umkehrschluss auch die Anbindung von den Dörfern nach Palma. „Das dezentralisiert einerseits, fördert andererseits aber auch das Pendeln nach Palma", gibt Vadell zu bedenken. Zahlreiche Dörfer im Umland könnten so zu reinen Schlafstätten der Pendler mutieren, während Palma noch mehr wirtschaftliche Tätigkeit anzieht. Mindestens ebenso wichtig sei deswegen, Dörfer und Kleinstädte attraktiver zu machen. „Damit meinen wir die zahlreichen Dorfzentren, in denen es der Einzelhandel oft schwer hat, weil sich so vieles auf Palma fokussiert", sagt Vadell.

Auf nach Inca und Manacor

Zudem will der Inselrat die ­Stellung von Inca, Manacor und Santa Ponça stärken. Der neue Plan zur

Genehmigung von Verkaufsflächen sieht vor, in Inca bis zu 30.000 Quadratmeter große Einkaufszentren zu erlauben und bis zu 20.000-Quadratmeter-Flächen in Manacor. In Alcúdia und Santa Ponça-Palmanova wird auf Verkaufsflächen von bis zu 5.000 Quadratmetern gesetzt, in den übrigen Gemeinden entsprechend weniger. „Diese Einkaufszentren und Ketten dürfen allerdings nur in den Ortskernen angesiedelt sein. Weitere Verkaufsflächen in der Peripherie wollen wir nicht", betont Vadell.

Er spielt damit auf das vor einem Jahr eröffnete Fan Shopping bei Palma an, aber auch auf Manacor, wo sich am Stadtrand vor allem große Möbelhäuser angesiedelt haben. „Unsere Kunden kommen von der ganzen Insel", sagt der Sprecher eines dieser Möbelhäuser. Er bestätigt aber auch: Bis ins Zentrum finde die Mehrzahl der Käufer nicht. „Sie kommen gezielt zu uns und fahren dann wieder weg."

Wozu ein Einkaufszentrum?

Joan Carles Verd, Vorsitzender des balearischen Gemeindeverbands Felib, befürwortet die Pläne des Inselrats grundsätzlich. Vielen Menschen, die sich für das Leben abseits von Palma entscheiden, sei es wichtig, die dörfliche Ruhe zu bewahren, und dafür sei ein lebendiger kleiner Einzelhandel wichtig. In seinem Wohnort Artà hat Verd selbst mitbekommen, dass die Mehrheit der Einwohner gegen Belebung um jeden Preis ist. Als ein Werbegag des Rathauses Ende November den Bau eines neuen Einkaufszentrums im Ort verkündete, waren sich viele schnell einig: Charakterlose Läden, die wolle man nicht, und auch große Ketten seien überflüssig. „Bei uns gibt es doch schon alles, was wir brauchen", hieß es im Dorf.

Anders in Orten wie Mancor de la Vall, dem kleinen Dörfchen hinter Inca. Hier klagen die Einwohner seit Jahren darüber, keine Einkaufsmöglichkeiten mehr im Ort zu haben. Hier ziehen zwar neue Leute hin, viele sehen den Ort aber nur als Schlafstätte.

In solchen Fällen sei Dezentralisierung das Einzige, was helfe, findet Verd. Voraussetzung sei allerdings, die Stellung Palmas als Nabel der Insel zu reduzieren. „Der Nahverkehr ist momentan beispielsweise komplett auf Palma ausgerichtet, während die Dörfer untereinander viel zu schlecht vernetzt sind." Das stimmt: Wer in den Wintermonaten mit dem Bus von Pollença im Norden nach Cala Ratjada im Nordosten fahren möchte, dem bleibt nichts anderes übrig, als den Umweg über die Hauptstadt zu nehmen und dort umzusteigen.

Jwd - die anderen Inseln

„Noch schlimmer ist es natürlich für die Menorquiner oder Ibizenker",

sagt Verd, ganz zu schweigen von den Bewohnern Formenteras. Schließlich ist Palma nicht nur Dreh- und Angelpunkt von Mallorca, sondern auch Hauptstadt der Inselgruppe. Wer krank und auf medizinische Fachärzte angewiesen ist, dem bleibt häufig nur das Universitätskrankenhaus Son Espases. „Für Angehörige bedeutet ein kurzer Besuch dann schnell eine Tagesreise."

Auch Mitarbeiter der Universität oder Verwaltungsangestellte müssen zwangsläufig ihren Wohnsitz nach Mallorca verlagern, wenn sie von einer der anderen Inseln stammen. Die kürzlich auf 75 Prozent erhöhten Residentenrabatte bei den Flügen und Fährverbindungen gingen zwar in die richtige Richtung, „aber es wäre sicherlich nicht verkehrt, auch die Standorte der Behörden und öffentlichen Einrichtungen zu dezentralisieren. Und warum nicht ein neues Krankenhaus in Felanitx oder auf einer der anderen Inseln bauen, anstatt die in Palma immer weiter zu vergrößern?", so der Vorsitzende des Gemeinde­verbands.

Solche Pläne sind im Inselrat zumindest bisher noch nicht geschmiedet. Und auch in den Rathäusern von Manacor und Inca hält man sich auf die Anfrage der MZ bedeckt. Belebung sei zwar wünschenswert, konkrete Projekte stünden aber noch nicht an. Es sei ein langer Weg, lenkt auch Miquel Vadell vom Inselrat ein. Palma werde immer die wichtigste Stadt der Inseln bleiben. „Aber es bleibt dabei: Die Entzerrung ist notwendig." Sowohl für Palmas Lebensqualität als auch für die Lebensqualität anderswo auf der Insel.