Ein sonniger Sonntag im November in València. Zehntausende stehen beim Marathon in den Startlöchern. Bürgermeister Joan Ribo gibt auf der Ehrentribüne den Startschuss, Ministerpräsident Ximo Puig winkt der vorbeilaufenden Menschenschlange zu. Nur der eigentliche Sponsor des Massen­events, Mercadona-Chef Juan Roig, steht sich dort oben nicht mit all den Honoratioren die Füße platt. Der 68-Jährige läuft anonym irgendwo unter den joggenden Konsumenten mit. Nur die 10.000 Meter, aber immerhin. Auf den Fotos in den Zeitungen am Folgetag sieht man seinem unter einer Kappe verstecktem Gesicht an, dass der Supermarktchef seine berüchtigte „Cultura del Esfuerzo" (Kultur der Anstrengung) nicht nur von Angestellten und Zulieferern einfordert, sondern sie auch selbst lebt.

Der zweitreichste Mann Spa­niens hat die weltweit zwölftgrößte Supermarktkette praktisch in Eigenregie aufgebaut. 1981 übernimmt er die acht aus der Fleischerei Carnicas Roig bei València hervorgegangenen Mercadona-Lebensmittelgeschäfte seiner Eltern. In den 90er-Jahren kauft er regionale Supermärkte in Andalusien, Katalonien und Madrid auf. Von nun an setzen nicht mehr die Großhändler ihre Konditionen und Preise durch, sondern Mercadona diktiert die Spielregeln. Mit 1.627 Filialen, 84.000 Angestellten und 5,2 Millionen Haushalten als Kunden ist Mercadona heute mit Abstand Marktführer im Lebensmitteleinzelhandel.

Die jüngsten Studie des Consultingunternehmens Kantar-Worldpanel schreibt Mercadona einen spanienweiten Marktanteil von 24,1 Prozent zu. Verfolger Carrefour schafft es mit 8,6 Prozent auf den zweiten Platz, die Gruppe um den Discounter Dia auf 7,7, Eroski auf 5,6 und Lidl auf 4,4 Prozent. Mit einer Wachstumsrate von 1,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr legte der Marktführer 2017 auch stärker als andere Ketten zu. Dahinter folgte Lidl mit 0,2 Prozent.

„Mercadona und Lidl modernisieren ihre Filialen und wollen, was die neuen Tendenzen betrifft, von den Kunden auch als Marktführer wahrgenommen werden", sagt Florencio García, Retail-Direktor von Kantar-Worldpanel. Allein 2017 investierte Mercadona in die Modernisierung der Filialen 189 Millionen Euro. Auch in Palma eröffneten drei „effiziente" Filialen. Auf Mallorca ist Mercadona mit 42 Supermärkten vertreten. Auch wenn das erheblich weniger sind als die der Eros­ki-Kette, gibt es derzeit keine Expansionspläne. Stattdessen wird in den Umbau der Filialen investiert, die heller, für Kunden und Mitarbeiter freundlicher und vor allem energieeffizienter werden sollen. Beliefert werden die Supermärkte täglich mit in Riba-roja (València) beladenen Lastwagen. Die Kette beschäftigt balearenweit 2.253 Mitarbeiter.

„Grundlage des Erfolgs von Mercadona ist das modelo de gestión de calidad total", schreibt Javier Alonso in seinen Buch „Historia de un éxito: Mercadona". Dieses „Modell des absoluten Qualitätsmanagements" wird inzwischen an der Harvard Business School gelehrt und fußt auf fünf Säulen: dem Boss, dem Mitarbeiter, dem Großhändler, der Gesellschaft und dem Kapital. „El jefe", der Boss, ist dabei nicht Juan Roig oder der Marktleiter. Das sind die 5,2 Millionen Haushalte, die bei Mercadona einkaufen. Mitarbeiter haben ihren eigenen Jargon und reden vom Jefe, nicht vom Kunden. Oberste Prinzipien: Die Preise müssen für den Jefe permanent gedrückt werden, die Produkte peinlichst genau auf die Bedürfnisse des Jefe und seine Qualitätsansprüche zugeschnitten werden.

Erst einmal die Kunden fragen

Mercadona verfügt über zwölf Labors, in denen Kunden an der Produktentwicklung mitwirken. Die Prämisse: Hohe Qualität zum günstigen Preis. Von 300 neuen Produkten im Sortiment von 2016 wirkten Kunden an 150 mit. So feilt der Konzern ständig mit Innovationen an einem imaginären Einkaufswagen. 2015 etwa vermeldet Juan Roig, die Kosten für diesen carrito de la compra seien um zwei Prozent gesunken. Nun hat der Jefe 96 Euro pro Jahr mehr im Geldbeutel. Gleichzeitig entschuldigt sich der Mercadona-Boss, weil einem neuen Waffeleis der Schokokrokant am Waffelende fehlt. Das schmeckt dem Jefe scheinbar nicht. „Man kann dem Kunden nicht das Vergnügen verwehren, den Eisgenuss mit einer Schokolade abzurunden", sagt Juan Roig und rudert zurück. Also gibt es die alte Waffel wieder.

Kein Wunder, dass der innovative Juan Roig bisweilen mit Apple-Gründer Steve Jobs verglichen wird. Viel ist über seine Person nicht bekannt, der Unternehmer mit einem geschätzten Privatvermögen von 9,2 Milliarden Euro gilt als sehr öffentlichkeitsscheu. Interviews gibt er keine. Ab und an tritt er als Lobbyist für die AVE-Schnellstrecke entlang der Mittelmeerküste in Erscheinung. Meist aber soll er landauf, landab reisen und Logistikzentren, Zulieferer und Supermärkte aufsuchen.

Juan Roig stammt aus einer mittelständischen neunköpfigen Familie aus València und genoss eine franziskanisch geprägte Erziehung. Er fällt weder als herausragender Schüler noch als Student auf. Während des BWL-Studiums lernt er seine Frau Hortensia Herrero kennen, die als diszipliniert und fleißig gilt. Seine Ader als Unternehmer entdeckt er erst um die 30. Da soll in ihm das Bewusstsein reifen, dass Inspiration und Innovation aus Arbeit entstehen. Daraus entwickelt sich die oft zitierte Kultur der Anstrengung. Zu dieser Zeit verschlingt Roig Bücher über Selbsthilfe und Management.

Vor die Kameras tritt er nur bei der alljährlichen Präsentation des Geschäftsergebnisses im März. Der für seinen trockenen Humor bekannte Roig nimmt dann kein Blatt vor den Mund. Einmal geht ihm die Arbeitsmarktreform der Regierung nicht weit genug, ein anderes mal fordert er die Spanier auf, sich an der Arbeitsethik der Chinesen ein Beispiel zu nehmen, und schimpft, seine Landsleute würden um ein 20-Faches über ihre Verhältnisse leben.

Gleichzeitig aber tritt er als scharfer Kritiker der Sparpolitik in Erscheinung. „Ich bin gegen Kürzungen, man muss sich von dem trennen, was keinen Wertzuwachs bringt, aber nicht Einsparen um des Einsparens Willen", meint er. Und bietet seinen Angestellten Gehälter, von denen anderswo Akademiker nur träumen können. „Angestellte verlangen von uns ein gutes Gehalt, gute Arbeitszeiten, Sicherheit, Zukunft und Aufstiegsmöglichkeiten." Das gibt er ihnen, allerdings nicht ohne im Gegenzug Loyalität und Einsatz einzufordern.

Qualitätssiegel Hausmarke

Das Geschäftsmodell des totalen Qualitätsmanagements macht sich auf subtile Weise bei jedem Einkauf bemerkbar. Man muss froh sein, dass man noch eine Coca-Cola kaufen kann. Seit 2009 wird das Sortiment immer stärker von den Hausmarken bestimmt. Hacendado für Lebensmittel, Bosque Verde, Verdifresh für Gemüse und Obst, Deliplus für Kosmetik- und Hygieneartikel und Compy für Tierfutter mercadonisieren die Einkaufsgewohnheiten spanischer Haushalte. Als Billigmarke gelten sie nicht mehr. „Bosque Verde wird als Qualitätsprodukt wahrgenommen, und hat daher eine sehr große Kundenbindung", meint Marketingprofessorin Ester Almenar, die eine Doktorarbeit über die Reinigungsprodukte von Mercadona geschrieben hat.

Die Hacendado-Fertigpizza stammt, ebenso wie die Wurstwaren, aus dem Hause Casa Tarradellas, das im Fernsehen für die Pizzen wirbt und sie in anderen Supermärkten unter dem Namen Casa Tarradellas für bis zu 60 Cent mehr vertreibt. Die Anti-Aging-Creme Sisbela gibt es im Mercadona für fünf Euro zu kaufen. Sie weist die gleichen Inhaltsstoffe wie das Produkt Alain auf, das in Drogerien oft über 60 Euro kostet.

Internetblogger halten Mercadona im Preis-Leistungs-Verhältnis bei Produkten wie Milch, Nudeln, Backwaren, Fisch, Tomatensauce, Mikrowellenreis, vegetarische Fertiggerichte und der Feuchtigkeitscreme Oliva für unschlagbar. Für Schnäppchenjäger kann ein Mercadona trotzdem frustrierend sein: Wenig Sonderangebote, kaum Sonderaktionen, keine Werbung.

Das Minus einer geringen Auswahl schafft ein Plus an mehr Platz. Mercadona-Märkte fallen in der Größe und Breite auf, da wird nicht zugepfercht, da kommen zwei Einkaufswagen aneinander vorbei. Laut der Studie der Harvard Business School bietet Mercadona auf dem Quadratmeter Fläche 43 Prozent weniger Produkte an als ein durchschnittlicher US-Supermarkt, gleichzeitig aber ist es die erfolgreichste spanische Firma, was den Verkauf pro Quadratmeter angeht.

Die Zulieferer oder Großhändler stellen die zweite Säule dar, auf dem das Modell des absoluten Qualitätsmanagements ruht. Den Großteil aller Produkte liefern Betriebe exklusiv für Juan Roig. Diese interproveedores produzieren in dem von ihm geforderten Rhythmus und gemäß seiner Qualitätsstandards. Wie in der Autoindustrie üblich, siedeln sie sich in der Nähe der großen Mercadona-Logistikzentren an und können auf kostenreduzierende Infrastrukturen zurückgreifen, etwa auf die grünen Kisten für Frischwaren und Obst, die vom Zulieferer Logifruit für Mercadona fabriziert und gereinigt werden. Diese Fabrikanten benötigen keine Marketingabteilung, keine Verkaufsdirektoren und keine Werbung - was Kosten senkt.

Dem Riesen ausgeliefert

Die Kehrseite der Medaille: Die Betriebe stehen unter der Kontrolle von Juan Roig. Und seine Fuchtel reicht bis in die Rechnungsprüfung seiner Zulieferer. Legendär, wie Roig unter dem Vorwand der Kostensenkung und Qualitätssicherung mit Zulieferern umspringt. Kritiker sprechen in manchen Fällen von einer De-facto-Übernahme. Vor allem Landwirte fühlen sich bisweilen wie ausgequetschte Zitronen. Da bleiben Spannungen nicht aus. Giganten wie Backwarenfa­brikant Dulcesol oder die Saftfabrik Don Simon haben die Zusammenarbeit mit Mercadona beendet, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren.

Dennoch: Schlecht scheinen die Betriebe mit Mercadona nicht zu fahren. Fabrikanten bietet Juan Roig langfristige Zusammenarbeit an. Umsätze und Gewinne gelten als garantiert. Eine vielversprechende Perspektive für Familienbetriebe: „Als wir uns ­kennenlernten, sagte mir Juan Roig: Mein Job ist es, Mercadonas zu eröffnen, und deiner, die beste Kosmetik zu machen. Wir reichten uns die Hände, und so läuft es bis heute", sagt Vicente Ruiz vom RNB Labor, das seit 1994 die Mercadona-Cremes herstellt.

Ein weiterer Pfeiler des Erfolgs: die ausgefeilte Logistik und die Kostenersparnis bei Transport und Verpackung. Da wird zwischen den Verpackungen auf den Paletten so wenig wie möglich Luft gelassen, da werden die Plastiktüten von den Teebeuteln entfernt, da wird darüber nachgedacht, ob man nicht auf die Kartons der Zahnpastatuben verzichten könnte. Ein Cent Ersparnis bei einem Produkt multipliziert sich aufgrund schierer Masse rasant zu Millionen von Euro. Allein bei Obst und Gemüse spart Mercadona laut Harvard-Studie 175 Millionen Verpackungskosten ein. Beliefert werden die Märkte von hochmodernen Logistikzentren aus, in denen sich die halben Paletten bis in schwindelerregende Höhen stapeln.

Nicht gespart wird hingegen am Personal Mercadona hat heute 84.000 Mitarbeiter, alle in Festanstellung. Das Einstiegsgehalt liegt mit 1.312 Euro brutto über dem, was andere Betriebe für geringqualifizierte Arbeit bezahlen. Mercadona schüttet 25 Prozent des Gewinns - um die 300 Millionen Euro - in Form von Prämien an Mitarbeiter aus und investiert 54 Millionen Euro in Fortbildungsmaßnahmen. Zudem sperrt sich Roig, sonntags und feiertags die Läden zu öffnen.

Hohe Fluktuation

Traumbedingungen? Nicht unbedingt. Die Fluktuation bei Mercadona gilt als hoch. Die Rede ist von bis zu 3.000 Angestellten pro Jahr. Frustrierte Angestellte vergleichen in Internetforen wie Sectadona oder Hacedaño die Arbeit bei Mercadona mit der Mitgliedschaft in einer Sekte und die Marktleiter mit Gefängniswärtern. Die von Roig gepredigte „Kultur der Anstrengung" prägt die Personalpolitik, die Auflagen reichen weit, die Ahndungen für Verstöße gelten als streng. So müssen Frauen geschminkt und Männer rasiert sein, sichtbare Tätowierungen und Piercings sind verpönt. Mercadona beschäftigt Ärzte, um den Wahrheitsgehalt von Krankmeldungen zu überprüfen. Der Krankenstand liegt angeblich ein Sechsfaches unter spanischem Durchschnittswert. Man mag sich ausmalen, warum.

Mercadona hat 2017 knapp 23 Milliarden Euro umgesetzt, und etwa 5.000 neue Arbeitsplätze geschaffen, nimmt 8.600 Landwirten, 5.200 Viehbetrieben und 12.000 Fischern ihre Produkte ab. Der Supermarkt steuert 1,7 Prozent zum spanischen Bruttosozialprodukt bei und führt gut 1,4 Milliarden Euro an Steuern ab und. Für Roig nicht nur eine Verpflichtung, sondern ein Beitrag zu Spaniens Wohlstand. Zudem engagiert er sich in der Kultur- und Sportförderung, unterstützt die Lebensmittelbanken und greift Existenzgründern über seine Plattform Lanzdara unter die Arme. Bisweilen mit dem ihm eigenen trockenen Humor. Als Valèncias Basketballer 2011 verzweifelt einen Sponsor suchen, springt Roig ein. Anstatt die Trikots mit dem Mercadona-Logo zu bestücken, ließ er sie mit „Cultura del Esfuerzo" bedrucken. Der Leitspruch prangt heute noch auf den Trikots des Erstligisten.