Als Jordi Bayona im Frühjahr 1968 nach Frankreich reiste, um Freunde zu besuchen, erwartete ihn das Chaos. „Paris war ein einziges Gewimmel", erinnert sich der mallorquinische Autor und Journalist: Demonstrationen, Barrikaden, brennende Autos, Straßenschlachten, Tränengas - und mittendrin ein 18-Jähriger, der damals noch wenig Französisch sprach, aber sich einfach mitreißen ließ, ohne sich der historischen Bedeutung des Augenblicks bewusst zu sein. „Es roch nach Zukunft. Aber dass ich Geschichte hautnah miterlebte, wurde mir erst viel später klar."

Inzwischen jährt sich die Revolte zum 50. Mal, und es wird Bilanz gezogen, in Frankreich, in Deutschland, in ganz Europa. Was ist geblieben vom Studentenprotest, vom Widerstand gegen den Vietnamkrieg, vom Aufbegehren der Arbeiter? Was wurde aus den damaligen Protagonisten rund um Rudi Dutschke oder Daniel Cohn-Bendit, die gegen die autoritären Institutionen und die konservative Elterngeneration anrannten? Und was kam von der Bewegung letztendlich in Spanien an?

Gefilterte Informationen

Der Mallorquiner Bayona blieb zunächst für ein paar Wochen in Paris, um dann wenig später zum Auslandsstudium in die Hauptstadt des Protests umzuziehen. Nicht nur, dass der heute 67-Jährige so gut wie mittendrin steckte in der Studentenrevolte und ihre Folgen an der Universität am eigenen Leib zu spüren bekam. Er hatte auch den direkten Vergleich mit Spanien. Die Bewegung sollte dort spät und nur gefiltert ankommen - obwohl die Zustände in den Spätjahren der Franco-Diktatur geradezu nach Reformen schrien. „Die Zeitungen waren damals in der Hand der politischen Rechten", so Bayona. Berichtet worden sei knapp oder verharmlosend.

Von der Einnahme der Sorbonne in Paris durch protestierende Studenten am 3. Mai 1968 schreibt die MZ-Schwesterzeitung „Diario de Mallorca" erstmals am 8. Mai - mit einem Foto auf der Titelseite, aber nur wenig Text. Die Rede ist lapidar von „zahlreichen Zwischenfällen". In derselben Ausgabe startet die Zeitung allerdings auch eine eigene Studentenseite, die dem ­„Ideenaustausch" gewidmet sein soll: „Auch wenn unser Land und unsere Eltern uns viel gegeben haben, müssen wir deswegen nicht verschweigen, was uns ungerecht erscheint", heißt es zur Einstimmung. Recht ausführlich hatte das „Diario de Mallorca" bereits im Vormonat über die Studentenproteste und das Attentat auf Rudi Dutschke berichtet. Der Tonfall ist meist neutral, am 16. April erschien aber auch ein Bericht, in dem sich zwischen den Zeilen sogar Bewunderung für den Aktivismus der Studenten herauslesen lässt.

Repression im Hörsaal

An Spaniens Universitäten war ein Aufstand zu diesem Zeitpunkt undenkbar. Sie standen unter der Kontrolle des Franco-Regimes - der Diktator hatte nach dem Sieg im Bürgerkrieg (1936-1939) dafür gesorgt, dass ein Drittel der Dozenten entlassen wurde. „Das waren mehr als in Deutschland unter Hitler", sagt der mallorquinische Historiker David Ginard. Hinzu kam, dass junge Leute aus regimefeindlichen Familien der Universität fernblieben - keine günstige Ausgangslage für Proteste.

Allerdings kam es auch in Spanien zum Bruch der Generationen, und Kinder aus regimefreundlichen Familien schlossen sich linken Bewegungen an. Der Journalist Fernando Palmero verweist in der Zeitung „El Mundo" auf die Massifizierung der Universitäten: „Das Regime war unfähig, die bislang für die gehobenen Schichten reservierten Einrichtungen an die neuen sozialen Forderungen anzupassen." Es bildeten sich studentische Gewerkschaften, die ab 1965 die Kommilitonen mobilisierten. Die Antwort des Regimes: Aufmüpfige Studenten wurden verstoßen, verurteilt oder zum Militärdienst geschickt, wo es eigene Strafbataillone gab. Ab 1967 hatte die Polizei zudem Spitzel in den Hörsälen.

Mallorca war von alldem weit weg - zumal es damals die Balearen-Universität (UIB) noch nicht gab, stattdessen nur Außenstellen der Universität von Barcelona im sogenannten L'Estudi General Lul·lià. Die geringe Zahl der Studenten, die Nachwirkungen der Repression im Bürgerkrieg und der beginnende Tourismusboom schufen auf Mallorca ein Klima, in dem der 68er-Geist wenig Chancen hatte, so Ginard. Die für das Jahr 1968 dokumentierte Festnahme von Intellektuellen in Palma sowie auch erste Gründungsinitiativen für Gewerkschaften im Untergrund standen damals nach Einschätzung des Historikers noch in keinem Zusammenhang mit dem Geschehen in Paris und Berlin.

Während in Frankreich die protestierenden Arbeiter ihre Ziele recht schnell erreichten, und die 68er-Generation sich anschickte, Kultur und Gesellschaft zu verändern und den „langen Marsch durch die politischen Institutionen" anzutreten, sickerten ihre Ideen erst nach und nach in Spanien ein. „Das kam nicht von einem Tag auf den anderen hier an, sondern drang allmählich wie durch Poren zu uns durch", erinnert sich der ehemalige Gewerkschaftsführer Pep Vílchez, der damals in einer Buchhandlung in Palma arbeitete. In der Spätzeit des Franco-Regimes gingen bei ihm auch revolutionäre Bücher über den Ladentisch.

Mao weist den Weg

Der damals 18-Jährige entdeckte für sich den Maoismus, eine Ideologie, die auch an den Universitäten in Madrid und Barcelona immer mehr Anhänger fand: „Die Gruppierungen links der kommunistischen Partei verfolgten antikapitalistische und revolutionäre Ideen, die zum großen Teil vom Maoismus in Frankreich beeinflusst waren", sagt Pep Vílchez.

Dass dies dem Regime durchaus Sorgen machte, zeigen die Entlassung des Bildungsministers und die Verhängung des Ausnahmezustands im Januar 1969. „Die wenigen Grundrechte, die wir hatten, wurden wieder aufgehoben", so Pep Vílchez. Freunde von ihm wurden festgenommen, die Buchhandlung musste letztlich schließen. Der Mallorquiner verdingte sich als Arbeiter im Hotelbau, knüpfte Kontakte zur damals noch verbotenen kommunistischen Partei und beteiligte sich ab 1973 am Aufbau von Gewerkschaftsstrukturen im Untergrund. Dass der Geist der 68er so seine späte Wirkung entfaltete, liegt für den heute 65-Jährigen auf der Hand - auch weil so ein internationaler Kontext entstand, der nach dem Tod von Franco 1975 den Übergang zur Demokratie begünstigen sollte.

Vílchez erinnert sich an den ersten offenen Protest gegen das endende Franco-Regime: „Wir verteilten nachts Wurfzettel in den Briefkästen, sprühten Parolen an die Wände und verabredeten uns über Mundpropaganda zu ersten Demonstrationen." Mit heutigen Kundgebungen hatte das nicht viel zu tun: Die Demonstranten erschienen plötzlich mit Transparenten auf der Jaume III., liefen über den Borne und verschwanden wieder in den Nebenstraßen, ehe die Polizei eingreifen konnte. Auch zu ersten Streiks in der Tourismusbranche kam es damals. Und erst Ende 1973 sollten auch auf Mallorca protestierende Studenten festgenommen werden.

Der Diktator vor dem Ende

Die Proteste der spanischen Studenten sollten sich dabei auf die Endphase der Franco-Diktatur 1974 und 1975 konzentrieren und hatten als Stoßrichtung vor allem den Kampf für Grundrechte. „Im Gegensatz zu Deutschland und Frankreich ging es den spanischen Studenten um die Demokratisierung der Universität und die Demokratisierung Spaniens", so der Historiker David Ginard. Hier der Kampf um Grundrechte wie Versammlungs- und Meinungsfreiheit, dort der Aufstand gegen eine althergebrachte Sexualmoral und der Ruf nach Selbstverwirklichung in einer materialistischen Wohlstandsgesellschaft- eine Entwicklung, die in Spanien erst Jahre nach dem Tod Francos einsetzen sollte.

Dass bei allem Ernst im Mai 1968 auch der Spaß nicht zu kurz kam, auch daran erinnert Bayona. „Das hatte alles auch einen sehr hedonistischen Charakter." Etwa bei der Einnahme der Sorbonne. „Da ging es vielen Studenten nicht zuletzt darum, mit den Mädels zu flirten." Man wollte das Leben mit anderen Augen sehen und nichts als unmöglich akzeptieren. „Sous les pavés, la plage", lautete ein Motto, an das sich der damalige Student erinnert: „Unter dem Straßenpflaster, der Strand."

Heute, 50 Jahre später, hadert Spanien erneut mit den gesellschaftlichen und politischen Strukturen. „Wir sind in einer ganz ähnlichen Situation wie damals", meint Bayona und verweist auf politische Bewegungen und Parteien wie Podemos. Und auch, wenn der damalige Student die Debattenkultur und die Fantasie von 1968 vermisst, hält er Wandel und Reformen für machbar. Ganz nach dem damaligen Motto: Eine andere Welt ist möglich.