Es sind beeindruckende Zahlen: Mehr als 87.500 Familien - das sind über 262.500 Menschen - leben in Spanien in einem Wohnraum, den sie besetzt halten. Das zumindest schätzt das Forschungsinstitut Cerdà aus Barcelona in einer Studie vom vergangenen Jahr. Auf Mallorca dürften es aktuell etwa 1.000 Häuser oder Apartments sein, sagt der Sprecher einer Hausbesetzer-Plattform namens „Stop Desahucios Mallorca", Joan Segura. Das Thema liefert mittlerweile auch in Deutschland fast täglich neue Schlagzeilen, die Immobilienunternehmer machen sich Sorgen, die Alarmanlagen-Installateure verkünden einen Verkaufszuwachs von knapp 20 Prozent.

Hausbesetzung ist ein Thema, das die Gemüter erhitzt. Ausländische Teilzeitresidenten vergehen in Sorge um ihre schmucken Ferienhäuschen auf der Insel, mallorquinische Immobilienbesitzer regen sich über die gitanos auf, die hinter all dem Schlamassel stecken sollen. Und die Politiker in Madrid? Die legten Ende April einen Gesetzesentwurf vor, der die Räumungsverfahren beschleunigen soll. Man kann ja nicht tatenlos zuschauen. Doch ist es so einfach? Was bewegt Menschen dazu, Häuser zu besetzen, die ihnen nicht gehören? Und welche Alternativen bietet der Staat?

Gute okupas, böse okupas

Der Anstieg der Mieten bei geringen Gehältern und hoher Arbeitslosigkeit, der Mangel an Sozialwohnungen und der große Bestand an leerem Wohnraum - das sind dem Forschungsinstitut Cerdà zufolge die Gründe dafür, dass es so viele Hausbesetzungen in Spanien gibt. Zu unterscheiden sei zwischen kriminellen Banden, politischen Besetzern und jenen, die aus finanziellen Gründen keine andere Chance sehen, der Obdachlosigkeit zu entgehen.

Joan Segura und seine Mitstreiter der Plattform „Stop Desahucios Mallorca" zählen sich zu Letzteren - und grenzen sich deutlich von kriminell-motivierten Banden ab. „In den vergangenen Monaten ist eine regelrechte kollektive Hysterie um die okupas entfacht, weil kriminelle Banden immer wieder für Probleme und Schlagzeilen sorgen."

Bei dem Wort Besetzer zucke heute jeder zusammen, denke an Hausfriedensbruch, Vandalismus, Diebstahl. „Aber wir haben mit diesen Mafias rein gar nichts gemein." Nie würden die Mitglieder der Plattform ein Haus besetzen, das einer Privatperson gehört, geschweige denn, in dem sich private Sachen befinden, sagt Segura. Stattdessen würden sie ausschließlich leer stehenden Wohnraum ins Auge fassen, der Banken gehört, oder mit dem große Firmen seit Jahren spekulieren. Nicht aus Böswilligkeit, betont er. „Sondern aus absoluter Not heraus."

Segura ist 35 alt und wohnt in einer Wohnung in Puigpunyent zur Miete. Nicht immer konnte er sich das leisten. Mitten in der Wirtschaftskrise verlor er seinen Job und besetzte im Juli 2014 zusammen mit anderen Bedürftigen ein Haus in Palma. „Es stand vorher lange leer und war sehr heruntergekommen. Schon nach einer Woche hatten wir das Einverständnis der Eigentümerin. Sie war froh, dass wir anboten, es auf Vordermann zu bringen. Andernfalls wären wir sofort wieder gegangen."

Eine soziale Bewegung

Es war die Geburtsstunde der Plattform „Stop Desahucios" auf Mallorca. „Wir sind keine NGO, eher eine soziale Bewegung. Fast alle von uns waren mal selbst von Zwangsräumungen oder Wohnungsnot betroffen." Damals, als die Zwangsräumungen wegen der geplatzten Immobilienblase und der damit verbundenen Unfähigkeit vieler Haushalte, ihre Hypotheken zu bedienen, groß in den Medien war, habe es viele Menschen gegeben, die Verständnis dafür aufbrachten, wenn Schuldner das von der Bank einbehaltene Haus besetzt hielten oder in andere leer stehende Gebäude zogen. „Aber das ist heute ganz anders", so Segura. „Es gibt eine Hausbesetzer-Mafia. Und die schadet uns am meisten."

Ganze Wohnblöcke in Palma sind mittlerweile in der Hand solcher Störenfriede. Nachbarn beschweren sich, beklagen Diebstähle, Anfeindungen, Aggressionen. Ob es sich tatsächlich um im großen Stil untereinander vernetzte Banden oder Roma-Clans handelt, ist unklar, ebenso, wie groß der Anteil dieser Gruppe an der Gesamtzahl aller Hausbesetzer ist. Genau wie die Besetzer, die aus der Not heraus handeln, fokussieren sie sich vor allem auf Wohnungen, die Banken gehören und lange leer standen - dort ist der rechtliche Druck zur Räumung meist geringer als bei Privatpersonen. Vereinzelt schrecken sie aber auch vor Eigentumswohnungen oder luxuriösen Ferienvillen nicht zurück - so wie im Fall des Hauses eines Deutschen an der Playa de Palma, das als Diebstahlzentrale genutzt wurde. Auch hier war oft die Rede von organisierten Banden, tatsächlich handelt es sich jedoch um eine Gruppe, die auf eigene Faust agierte.

Kaum politische Besetzungen

Was man auf Mallorca vergeblich sucht, sind politisch besetzte Häuser. „Von einem movimiento okupa kann hier keine Rede sein", bewertet Juan Pedro Velasco, den alle nur Juanpe nennen. Er hat selbst schon Häuser besetzt, kam durch Saisonjobs viel herum, war längere Zeit auf dem Festland und besuchte dort immer wieder casas okupas, Gebäude, die von politischen Gruppen eingenommen und zu halböffentlichen Treffs umgestaltet wurden - so, wie man sie auch aus deutschen Großstädten kennt. „Auf Mallorca ist so eine Bewegung schlichtweg nicht existent. Hier geht jeder seiner eigenen Wege", findet Juanpe.

Der 25-Jährige ist ein genügsamer Mensch. Dreadlocks umranden sein freundliches Gesicht. Vor 2,5 Jahren entdeckte er ein leer stehendes Haus an der Costa dels Pins. „Dort hausten mal Junkies, mal Clans", sagt er. Anscheinend waren sie des Gebäudes irgendwann überdrüssig, und so begann Juanpe, es herzurichten. Ein bisschen aus der Not heraus, ein bisschen, weil er es als Möglichkeit sah - für sich, und für das verfallende Haus. Unabhängig von sozialen Plattformen, politischen Gruppen oder gar kriminellen Banden. Ein halbes Jahr renovierte er, dann zog er ein. „Die Pflanzen wucherten darin, es gab keine Fenster. Ich musste Stromkabel verlegen, den Pool reparieren. Ich habe Solarzellen angebracht und viel investiert", sagt er.

Nicht ohne zuvor sicherzugehen, dass der Eigentümer das Haus schon seit Ewigkeiten aus den Augen verloren hatte. „Da stimmte etwas mit den Baugenehmigungen nicht, wie bei so vielen Häusern, deshalb hatte er es aufgegeben." Mit der Zeit tauten auch die Nachbarn auf. „Sie boten mir sogar Hilfe beim Renovieren an. Sie waren froh, dass die Scherereien mit den Junkies vorüber waren."

Handbuch für Hausbesetzer

Laut der Studie des Institut Cerdà sinkt der Wert der Immobilien durch die Besetzungen rapide, auch die Immobilienpreise in der Nachbarschaft gehen durch die Eindringlinge in den Keller. Angesichts der Tatsache, dass sich die Besetzertypen stark voneinander unterscheiden, vielleicht eine vorschnelle Verallgemeinerung. „Das Haus, das ich besetzt habe, hat auf jeden Fall an Wert gewonnen", sagt Juanpe.

Dass Wohnungen durch Besetzer sogar aufgewertet werden können, glaubt auch Joan Segura. Die spanienweite Mutterorganisation von „Stop Desahucios Mallorca", die „Obra Social", hat sogar ein Handbuch für Hausbesetzer im Internet veröffentlicht. Darin wird bedürftigen Familien explizit dazu geraten, die Wohnung zu pflegen und der Justiz so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Auch mit den Nachbarn solle man sich gut stellen.

Vor allem alleinerziehende Mütter mit Kindern bitten bei der Plattform um Unterstützung. Um anstehende Zwangsräumungen der eigenen vier Wände zu verhindern, oder um eine fremde Wohnung zu besetzen, wenn es nicht anders geht. Segura weiß von aktuell einem Dutzend von Plattform-Sympathisanten besetzten Objekten auf Mallorca.

Einfach weitervermieten

Er weiß aber auch von mehreren Fällen, in denen mutmaßliche Banden die Nutzung der besetzen Wohnungen an nichts ahnende, bedürftige Familien verkauften. So wie bei Yoselin Alarcón. Die Mutter dreier Kinder hatte im September per Räumungsbeschluss ihre Wohnung verloren, weil sie die Miete nicht pünktlich bezahlen konnte. Als ihr eine Wohnung in Palmas Einwandererviertel Son Gotleu angeboten wurde, dachte sie sich nichts Böses - und schließlich brauchte sie einen festen Wohnsitz, denn ohne Meldeadresse funktioniert bei spanischen Behördengängen kaum etwas. „Die angeblichen Eigentümer sagten uns, es sei ihre Wohnung. Wir gaben ihnen 800 Euro Kaution, dann tauchten sie ab. Sie haben uns betrogen", so Alarcón. Jetzt wird sie von dem tatsächlichen Besitzer, einem Investmentfonds, unter Druck gesetzt - wieder droht eine Zwangsräumung.

Das Schlimmste an den Banden sei, sagt Joan Segura, dass sie Bedürftigen nicht nur leer stehende Wohnungen wegschnappen oder unbewohnbar zurücklassen, sondern auch, dass sich durch sie nun die Politiker bewegen - allerdings in eine, wie er meint, falsche Richtung. „Das neue Gesetz könnte erwirken, dass besetzte Häuser innerhalb von maximal 20 Tagen geräumt werden können. Aber dabei wird gar nicht unterschieden, um welche Art von Besetzern es sich handelt", sagt Segura. Tatsächlich wird im Gesetzentwurf wachsende Armut als Grund für den Anstieg der Besetzungen aufgeführt, auch ist die Rede von „­mafiösen Phänomenen", die sich parallel dazu entwickelten. Trotzdem ist die Aussage deutlich: Ocu­pación dürfe „in keinem Fall" toleriert werden - immerhin gelte es, Privat­eigentum zu schützen. Segura findet, dass stattdessen die Banken stärker in die Verantwortung gezogen werden müssten. „Sie verriegeln leer stehende Objekte lieber, statt Sozialwohnungen anzubieten", kritisiert er.

Dass viele die Häuser lieber leer als besetzt sehen, glaubt auch Juanpe. Nachdem er anderthalb Jahre lang ohne Probleme im besetzten Haus an der Costa dels Pins lebte, stand eines Tages die Polizei vor der Tür. „Eine Baufirma hatte sie geschickt. Sogar die Beamten sagten zu mir, sie seien dankbar, dass ich hier wohne." Dennoch musste Juanpe ausziehen. „Ich bin letztens mal wieder an dem Haus vorbeigegangen. Die Firma kann es wegen der fehlenden Lizenzen nicht anrühren. Jetzt verfällt es erneut", sagt er. „Man glaubt gar nicht, wie viele Gebäude auf Mallorca leer stehen und einfach verrotten."

Kommentar: Hausbesetzer ist nicht gleich Hausbesetzer