Auf dem Stundenplan der Vorschüler in Búger im Inselinneren von Mallorca steht am Dienstagmorgen (29.1.) das Fach „Ambiente" (Umwelt). Die Kinder können frei wählen, was sie spielen wollen. Ein kleiner Junge zieht eine Flasche Seifenblasen aus einem Karton, pustet. Eine schimmernde Kugel fliegt auf Claudia zu. Sie verzieht verzückt das Gesicht. Claudia (6) ist ein Musterbeispiel für Inklusion. Die Sechsjährige hat das Lennox-Gastaut-Syndrom - eine schwer behandelbare Form von Epilepsie - und einen Behinderungsgrad von 94 Prozent. Sie kann nur mit Hilfe gehen, trägt Windeln, redet nicht. Trotzdem ist sie bereits im zweiten Jahr Schülerin der öffentlichen Grundschule im kleinen Inseldorf Búger, sitzt täglich zwischen Kindern ohne Förderbedarf, hat ihren Platz gefunden. Eine Lehrassistentin ist stets an ihrer Seite, auch spezielle Stühle hat Claudia, ansonsten wird nicht viel Aufheben um sie gemacht. Sie ist Teil der Klasse, so wie alle anderen. „Es funktioniert gut, die Kinder akzeptieren sie, die Lehrer sind bemüht", sagt ihre Mutter Fanny Thams.

Auch ein Blick auf die Statistiken vermittelt den Eindruck, dass schulische Inklusion auf Mallorca und den Nachbarinseln besser kaum laufen könnte. Von 6.481 Schülern mit Förderbedarf auf den Balearen gehen laut balearischem Bildungsministerium im aktuellen Schuljahr nur 508 auf spezielle Förderschulen. „Alle anderen werden an Regelschulen unterrichtet", sagt Jaume Ribas, Generaldirektor für Innovation. Das entspricht einer Inklusionsquote von 92 Prozent und liegt damit deutlich über der in Deutschland (47 Prozent). „Derzeit gehören wir zu den inklusivsten Regionen Spaniens, und wir arbeiten daran, das weiter auszubauen", so Ribas.

Nur eine Mogelpackung?

Joan Jordi Muntaner, Professor für Erziehungswissenschaften an der Balearen-Universität, schüttelt entschieden den Kopf, wenn man ihn auf den Erfolg der Inklusion auf den Balearen anspricht. „Inklusion ist ein Prozess. Und wir sind auf den Inseln weit davon entfernt, ihn bald abzuschließen", sagt er. Zum einen, weil Statistiken immer mit Vorsicht zu genießen seien. Zu Kindern mit Förderbedarf zählten teilweise eben auch Legastheniker oder solche, bei denen ADHS festgestellt wurde. Die Kinder und Jugendlichen mit schweren körperlichen oder geistigen Behinderungen gingen dann aber doch oft auf die speziellen Förderschulen. Und auch die sogenannten ASCE-Klassen seien Mogelpackungen, die die Statistiken beschönigten. „Da lernen Schüler mit Förderbedarf unter sich in abgetrennten Klassenräumen im Gebäude der Regelschule. Das hat mit Inklusion nichts zu tun."

Dabei wurde bereits im Jahr 2009 per UN-Konvention festgelegt, dass alle Kinder - eben auch die mit Behinderungen - ein Recht darauf haben, am ganz normalen Unterricht an öffentlichen Regelschulen teilzunehmen. Ein Übereinkommen, das sowohl Deutschland als auch Spanien in Zugzwang bringt, nicht nur über Inklusion zu reden, sondern sie auch aktiv zu gestalten. Der rechtliche Rahmen dafür steht auf den Balearen seit Inkrafttreten des „Dekrets über die Achtung der Vielfalt" im Jahr 2011. „Die Vorgaben sind klar. Jede öffentliche Schule muss jedes Kind in seinem Einzugsbereich aufnehmen. Doch es gibt immer noch sehr viele Regelschulen, an denen die Voraussetzungen für Inklusion absolut nicht erfüllt sind", so Muntaner. Bei denen bekämen Kinder mit höherem Förderbedarf im Anmeldungsprozess dann oft Absagen.

Die Erfahrung haben auch Claudia und ihre Mutter Fanny Thams gemacht. Eigentlich sollte Claudia in die Dorfgrundschule von Sencelles gehen. Schließlich lebt die Familie hier. „Aber die Klassen waren groß, die Lehrkräfte wenig aufgeschlossen. Und ich habe schon lange aufgehört, Verantwortliche im Bildungs- oder Freizeitbereich dazu zu überreden, meine Tochter teilhaben zu lassen, wenn sie es nicht von sich aus wollen. Das raubt einfach zu viel Energie", so Thams. In Búger waren die Lehrkräfte offener, und so nehmen Fanny und Claudia die 25 minütige Autofahrt zur Schule in Kauf. „Mir ist es wichtig, dass Claudia nicht einfach in einen Rollstuhl gesetzt und in den Klassenraum gestellt, sondern eingebunden wird", so Thams. Dass sie dabei nicht die gleichen Dinge lernt wie ihre Mitschüler, spiele keine Rolle. „Aber sie ist gerne dabei, und der Umgang mit Gleichaltrigen ohne Behinderung tut ihr gut, das merke ich. Sie reagiert anders auf sie als auf Erwachsene oder Kinder mit Behinderung."

Inklusion - was bringt das?

„Inklusion ist nicht nur für Kinder mit Behinderung die beste Option, sondern auch für alle anderen Kinder", sagt der Erziehungswissenschaftler Joan Jordi Muntaner und verweist auf entsprechende Studien. Für die Kinder mit

Behinderung sei es besser, weil sie nicht abgeschottet werden und Teil der Gemeinschaft bleiben. „Wenn einer ihrer Mitschüler später mal Architekt ist, wird er sicherlich nicht vergessen, auf seinen Skizzen Rampen und Barrierefreiheit einzubauen." Für die anderen Schüler sei es von Vorteil, weil sie durch das Zusammensein wichtige Dinge lernen können. „Bildung bedeutet ja nicht nur, Wissen aufzunehmen, sondern auch Beziehungen aufzubauen und Werte zu bilden. Erst recht heutzutage, wo reine Informationen über jedes Smartphone abrufbar sind."

Dass Unterschiede zwischen den Schülern bestünden, bestreitet Joan Jordi Muntaner nicht. „Aber es gibt Unterschiede zwischen uns allen, nicht nur zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, und man kann nie erwarten, dass alle das Gleiche aus einer Unterrichtsstunde mitnehmen." Das Bildungssystem müsse dem mit individuelleren Lehr­methoden Rechnung tragen, wobei der Weg dahin auf Mallorca noch weit und die Politik nicht immer hilfreich sei. „Die Balearen-Regierung spricht sich für Inklusion aus, trifft aber gegensätzliche Entscheidungen." So wie die Genehmigung der Eröffnung einer neuen Förderschule auf Ibiza. „Das ist eine klare Entscheidung für die Exklusion."

Das Ende der Förderschulen?

Acht halböffentliche und eine öffentliche Förderschule gibt es derzeit auf Mallorca. Einige sind nicht auf eine spezielle Behinderung festgelegt, wie beispielsweise „Mater Misericordiae" in Palma, „Patronat Joan 23" in Inca oder das Bildungszentrum „Joan Mesquida Aproscom" in Manacor. Andere, wie die „Princesa de Asturias Asinmo" in Palma für Menschen mit Downsyndrom oder die „Gaspar Hauser" für Autisten, sind spezialisierte Einrichtungen. Anmeldungen gibt es dort weiterhin, dennoch ist unklar, ob sie langfristig bestehen bleiben. In Madrid schmiedet die spanische Regierung momentan Pläne, zahlreiche Förderschulen im Land zu schließen und die Schüler an Regelschulen unterzubringen - erst im Mai hatte das UN-Komitee ein Mahnschreiben an Spanien verschickt, wegen des „systematischen Verweises von Schülern mit Behinderung auf Förderschulen".

„Die Förderschulen waren früher ein großer Fortschritt", sagt der Historiker und Buchautor Joan Josep Matas. Sie hätten maßgeblich dazu beigetragen, dass die Zeiten, in denen Menschen mit Behinderung im allgemeinen Sprachgebrauch als imbéciles (Schwachköpfe) oder idiotas bezeichnet oder von ihren Familien zu Hause abgeschottet wurden, längst vorbei sind. „De la foscor a la llum" - Von der Dunkelheit ins Licht - heißt das Buch, das Matas gerade veröffentlicht hat. Es geht darin um Menschen mit Behinderung auf Mallorca und ihr Umgang mit ihnen vom Ende des 19. Jahrhundert bis heute. Der Titel stimmt hoffnungsvoll, suggeriert, dass die Insel auf einem guten Weg ist. „Fast alle Förderschulen auf Mallorca entstanden in den 60er- und 70er-Jahren, meist auf Initiative von Angehörigen von Menschen mit Behinderung oder von kirchlichen Kreisen", so Matas. Zunächst dienten die Förderschulen der Rehabilitation. Erst in den 80er- Jahren, als die Vereinigungen immer stärker wurden, staatliche Subventionen erkämpften und Verträge mit Unternehmen schlossen, um Kontakte zum ersten Arbeitsmarkt zu knüpfen, ging es vermehrt um Förderung von Stärken statt um Ausbügeln von Schwächen. „In puncto Inklusion auf dem Arbeitsmarkt sind wir auf den Balearen auch dank der Förderschulen schon wirklich weit, das ist sehr positiv", resümiert Matas.

Auf dem spanischen Festland regt sich bereits Widerstand gegen mögliche Schließungen der centros de educación especial. „Sie funktionieren sehr gut. Es gibt viele Kinder mit intellektuellen Behinderungen, denen es auf Regelschulen nicht gut geht, weil ihr Lernrhythmus ein anderer ist. Nicht wenige werden dort Opfer von Mobbing", sagt beispielsweise eine Sprecherin der Plattform „Educación inclusiva sí, especial también" gegenüber „El País".

Auch Joan Josep Matas ist Förderschulen gegenüber aufgeschlossen. „Obwohl ich selbst für Inklusion kämpfe, muss ich gestehen, dass meine Tochter eine Förderschule besucht", berichtet er. Victoria (10) hat einen hohen Behinderungsgrad und ist auf der Mater Misericordiae angemeldet. „Natürlich wäre es toll, wenn sie auf eine Regelschule gehen würde. Aber es ist schwer, als Eltern diesen Schritt zu wagen. Schließlich ist sie auf der Misericordiae gut aufgehoben." Zu vieles liege an Regelschulen noch im Argen. Von Ausnahmen abgesehen fehle es oft an fähigen Lehrkräften, an kooperativen Schulleitungen, an unterstützender Verwaltung, an behindertengerechten Lehrmaterialien und an Barrierefreiheit.

Den Blickwinkel ändern

„Mehr als um Bedingungen und Mittel geht es doch eher um eine Änderung des Blickwinkels", findet Margarita Platel, die Leiterin der Förderschule „Joan Mesquida --Aproscom" in Manacor. Hier besuchen derzeit 90 Schülerinnen und Schüler den Unterricht, ein Team aus Sonderpädagogen, Therapeuten, Psychologen und spezialisierten Hilfskräften sorgt dafür, dass Kinder und Jugendliche ihren Fähigkeiten entsprechend gefördert werden. Trotzdem unterstützt Platel die Idee, mehr und mehr Schüler auf Regelschulen unterzubringen. Sie ist sich sicher: „Alle Schüler können an Regelschulen unterrichtet werden. Aber es ist wichtig, dass die Methodologie und das Umfeld sich wandeln, um die Bedürfnisse aller Kinder zu befriedigen." Unumgänglich sei es, dass die Menschen im Vordergrund stünden, ihre Interessen und Fertigkeiten und nicht ihre Schwachstellen. „Solange versucht wird, den Schüler zu ändern und nicht sein Umfeld, werden wir nie die erhofften Resultate erzielen."

Im „Ambiente"-Unterricht an der Vorschule in Búger haben sich die Kinder zu einem Abschieds-Sitzkreis zusammengefunden. Auch Claudia ist natürlich dabei. Die Kinder erzählen reihum von ihren Eindrücken des Vormittags. Als Claudia an der Reihe ist, hält die Klassenlehrerin ihr wie jedes Mal zum Abschied Fotos ihrer Eltern hin. „Jetzt geht es nach Hause", sagt sie. „Natürlich muss ich überlegen, wie wir es in Zukunft machen, wenn der richtige Grundschulunterricht beginnt. Und erst recht, wenn es später auf eine weiterführende Schule geht", sagt Claudias Mutter Fanny Thams. Sie ist auch Förderschulen gegenüber nicht abgeneigt, hat sich bereits mehrere angeschaut. „Egal ob im Freizeitbereich oder in der Schule, ich sehe es immer als Versuch an, wenn ich Claudia irgendwo anmelde." Im Vordergrund stehe für sie ganz klar, dass es ihrer Tochter gut geht. Solange das gegeben sei, könne alles so weitergehen. Und wenn es auf inklusivem Wege funktioniert - umso besser.