Dieser Artikel erschien erstmals im Dezember 2019 in der MZ.

Es ist Samstagmittag (16.11.) auf der Plaça Llorenç Bisbal in der Altstadt von Palma. Der Stadtteilflohmarkt Sant Rescat ist trotz des wolkenverhangenen Himmels in vollem Gang. Es sind nur wenige Urlauber hier, die meisten Besucher sind Einheimische. In der Mitte des Platzes spielt eine Swing-Band. Hinter der Theke der anliegenden Bar Rita ist der junge Kellner gerade ein wenig überfordert. „Haben wir noch irgendwo Wermut auf Lager?", fragt er seine Kollegin. Er hat heute bereits einige Flaschen des Getränks ausgeschenkt. Vor der Bar stehen Freundesgruppen. Einige haben ein Bier in der Hand. Mindestens genauso viele aber halten ein Glas mit zwei Eiswürfeln, einer Orangenscheibe und dunkelrotem vermut (Wermut).

Vor einigen Jahren noch hätte nur ein Bruchteil des Gäste sich bei so einer Gelegenheit für den Aperitif entschieden. „Der Wermut ist weiterhin schwer angesagt", sagt der renommierte Sommelier Juan Muñoz Ramos. Er hat vor wenigen Monaten mit „Vermut - todo el universo de la bebida de moda" (Wermut: das Universum des Modegetränks) einen umfassenden Führer durch die spanische Wermut-Landschaft veröffentlicht.

Bestandsaufnahme eines Comebacks

Es ist die Bestandsaufnahme eines Comebacks: In den 50er- und 60er-Jahren war es in Spanien zumindest für die Männer gang und gäbe, nach dem sonntäglichen Gottesdienst auf einen Wermut in der Kneipe einzukehren, bevor es heim zum Mittagessen ging. Diese Zeit nannte man dementsprechend la hora del vermut. Der Begriff hat sich gehalten, der Konsum des Getränks selbst ging jahrzehntelang zurück - bis vor ein paar Jahren.

Die Begeisterung für den Wermut ist nicht bloß ein Trend, davon ist Nacho Velasco überzeugt. „Das Wort Mode gefällt mir nicht", sagt der Chef der Vermutería La Rosa nahe der Plaça del Mercat in Palma, „denn es impliziert, dass etwas bald wieder verschwindet." Velasco hat sein im Vintage-Stil gehaltenes Lokal im Jahr 2015 eröffnet, als der Wermut-Hype vom Festland auf die Balearen schwappte. „Es war der Sternekoch Tomeu Caldentey, der uns den Tipp gab, auf die Entwicklung des Wermuts zu achten. Plötzlich gab es nicht mehr nur vermuterías in Städten wie Barcelona oder Bilbao, sondern auch in Valladolid", erinnert er sich. Zahlreiche andere Lokale haben sich seither vor allem in Palma dem Kultgetränk verschrieben. Grundsätzlich führt aber jede guteBar einige Sorten des meist tiefroten oder weißen Getränks.

75 Prozent Wein

Laut der EU- Verordnung 251/2014 ist Wermut ein aromatisierter Wein, der zu 75 Prozent aus Weinbauerzeugnissen besteht. Farbstoffe, Süßungsmittel und Alkohol können beigemischt werden. Der Alkoholanteil kann zwischen 14,5 und 22 Volumenprozent enthalten. Der Aperitif fällt dabei unter die gleiche Verordnung wie Sangria und Glühwein.

Das ist natürlich eine recht unzulängliche Beschreibung für ein Getränk, das mit bis zu 80 verschiedenen Wurzeln und Kräutern aromatisiert wird, und sich im besten Fall durch eine perfekte Balance zwischen Süß- und Bitternoten auszeichnet. Und das eine lange Tradition hat: Es gibt Hinweise, dass schon in der Antike Wein auf ähnliche Weise aromatisiert wurde.

Der Erfinder des Wermuts

Als Erfinder des modernen Wermuts gilt Antonio Benedetto Carpano, ein Wirt aus Turin. Er mischte im Jahr 1786 Weißwein mit Zucker, über 30 aromatischen Kräutern und Wurzeln sowie einem Schuss Brandy. Die neue Kreation benannte er nach dem deutschen Begriff für das Wermutkraut. Manchen Erzählungen zufolge soll Benedetto sich bei der Wahl des Namens an Gedichte von Goethe erinnert haben. Das neue Getränk wurde schnell ein Erfolg. Später schwappte die Welle nach Frankreich über, wo man eine eher trockene Variante bevorzugt.

Die Geburtsstätte des Wermuts in Spanien ist Katalonien. 1876 entstand in Barcelona die Wermutmarke Peruchi, sechs Jahre später in Tarragona die Marke Yzaguirre. Beide sind bis heute wichtige Vertreter auf dem hiesigen Markt. Wie sehr Katalonien mit dem aromatisierten Wein verbunden ist, kann man auch im 2014 eröffneten Museu del Vermut in Reus begutachten.

Der Vorteil des Wermuts ist auch seine Vielseitigkeit. Man kann ihn sich mit Olive oder ohne, mit Soda aus der Siphonflasche oder pur auf Eis schmecken lassen . Und nicht zuletzt lässt er sich auch wunderbar in klassischen Cocktails wie dem Martini, dem Manhattan oder dem Negroni einsetzen.

Eine Folge der Krise?

Für die Renaissance der vergangenen Jahre gibt es verschiedene Erklärungen. Miguel Domenge von der jungen mallorquinischen Marke „Vermut Dimoni" glaubt, dass die Wirtschaftskrise zur Rückbesinnung auf den

Wermut geführt hat. „Die jungen Leute hatten kein Geld mehr, um abends auszugehen oder sich Gin Tonics zu leisten", sagt der 29-Jährige. „Wermut hingegen ist günstig. Das Ausgehen hat sich für viele Leute von der Nacht auf den Tag verlegt." Ein Beweis für diese Theorie seien die sogenannten tardeos, Partys, die am Nachmittag stattfinden. „Für viele Familien mit Kindern ist das Treffen zum vermut mit Freunden die beste Möglichkeit, am Wochenende auszugehen."

Bestandteil der spanischen Kultur

Nacho Velasco von der Vermutería La Rosa sieht das anders: „ Die hora del vermut ist genauso wie der Wermut ein Bestandteil der spanischen Kultur. Man kann es als hiesiges Äquivalent zur britischen tea time betrachten. In der Zeit nach der Franco-Diktatur habe man diese Kultur abgelehnt, deshalb sei der vermut in Vergessenheit geraten. „Damals wollte man sich von allem Bewährten lösen. Es waren Zeiten des Aufbruchs. Man wollte international und europäisch sein." In den vergangenen Jahren sei dieses Bedürfnis nach Abgrenzung nicht mehr so stark gewesen. „Es ist ganz normal, dass man sich auf die Vergangenheit besinnt, um in die Zukunft zu schauen. Es ist eine Frage der Identität."

Gleichzeitig hätten sich die Präferenzen bei den jungen Leuten verschoben: „Früher wurden viel mehr Spirituosen getrunken, heute sind eher Wein und Bier angesagt. Und eben Wermut", sagt Nacho Velasco. Die Zahlen des spanischen Spirituosenverbandes FEBE geben ihm recht. Wurden 2003 in Spanien noch 435 Millionen Liter Spirituosen verkauft, waren es 2018 nur noch 215 Millionen Liter. Im Vergleich dazu ist der Wermut allerdings noch eine kleine Nummer. Laut dem Verband der spanischen Wermut-Hersteller ANEV werden jährlich rund 30 Millionen Liter konsumiert. Tendenz steigend.

Das kann Mallorca auch

Dass das Getränk auf Mallorca angekommen ist, lässt sich auch an den Marken ablesen, die in den vergangenen Jahren hier entstanden sind. Der Hierbas-Hersteller „Túnel" brachte schon vor vier Jahren den Wermut „Muntaner" in roter und weißer Variante auf den Markt. Dos Perellons stellt seinen neonroten „Vermut vermell" her. Der Ginhersteller Boc setzt bei seinem auf Roséwein basierenden „Vermouth Orange" ebenfalls auf die namensgebende Farbe. Und auch die Vermutería La Rosa stellt mit „5 pétalos" einen eigenen Wermut her. Dieser wird auf Basis von Rotwein angesetzt.

Einer der neuesten Hersteller auf Mallorca ist „Vermut Dimoni" aus Sant Llorenç des Cardassar. Miguel Domenge hat das Unternehmen 2016 mit seinem Vater und seinem Onkel gegründet. Weihnachten 2017 kamen die ersten Flaschen auf den Markt. Heute hat die Firma, die sich vor allem auf den Vertrieb in den Dörfern spezialisiert hat, fünf feste Mitarbeiter. Das Bild des traditionellen mallorquinischen Teufels auf dem Etikett repräsentiert die Marketinglinie der jungen Firma: „Wir setzen auf mallorquinische Kultur, aber ohne diese oder uns selbst zu ernst zu nehmen", sagt Domenge.

In sechs Monaten fertig

Wermut sei vergleichsweise leicht herzustellen, sagt Nacho Velasco, daher sei der Aufbau einer neuen Marke mit geringen Risiken verbunden. Man brauche keinen besonders guten Wein, da der Geschmack sich aus der

Mazeration mit Kräutern und dem beigefügten Zucker ergebe. Hier liege das Geheimnis eines jeden Wermuts. Die Herstellungszeit sei mit rund sechs Monaten relativ kurz. „Man kann mit einem neuen Produkt schnell auf den Markt kommen. Immer mehr Bodegas entschieden sich laut Velasco, aus dem aus der normalen Produktion übrig gebliebenen Wein eigene Wermutlinien zu produzieren.

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Als die Domenges eine Bodega suchten, mit der sie ihren Teufels-Wermut produzieren konnten, wurden sie auf der Insel allerdings nicht fündig. „Kurioserweise war die Betonung auf das Mallorquinische der Grund, warum wir niemanden für eine Kooperation gewinnen konnten", erzählt Miguel Domenge. „Sie fürchteten, es gebe keinen ausreichenden Markt für ein solches Produkt." Man habe sich schließlich für den Wein aus Murcia entschieden. „Die Kräuter und Wurzeln kommen aber alle von der Insel", sagt Domenge.