Er kann einfach nicht aus seiner Haut. Als die MZ Andreu Morell zum Interview trifft, steht er auf der Plaça Llorenç Bisbal in Palma de Mallorca und fotografiert eine Straßenlaterne, an deren Fuß sich ein kleines Becken befindet. „Das hier ist ein Straßenlaternen-Brunnen, die waren früher in Städten sehr üblich. Unter dem Platz befindet sich eine Zisterne, aus der mithilfe einer an der Laterne angebrachten Kurbel Wasser hochbefördert wurde", sagt der 68-Jährige.

Der Mallorquiner hat ein Online-Verzeichnis der Brunnen Mallorcas erstellt. Die guss­eiserne Konstruktion nimmt er jedoch nicht auf. Seine Brunnen müssen drei Kriterien ­erfüllen: Sie dürfen nicht durch einen physischen Mechanismus (wie die Kurbel) betrieben werden, müssen von einer unterirdischen Quelle gespeist sein, und bedürfen einer von Menschen gefertigten Konstruktion, wie beispielsweise eines Beckens oder Kanals.

Diesen Ausschlusskriterien zum Trotz finden sich auf fontsdetramuntana.com, die Internetseite betreibt Morell seit 2011, sage und schreibe 1.657 Brunnen. Er hat sie alle selbst besucht, seitdem er vor acht Jahren mit seinem Projekt begann. Damals war er noch als Immobilienmakler tätig, hatte aber durch die Wirtschaftskrise wenig zu tun. Die akribische Katalogisierung der Wasserstellen machte er sich zum Hobby. Dabei wusste er zu Beginn nicht, auf was er sich einließ: „Ich dachte, es gäbe vielleicht so hundert Brunnen", erinnert er sich schmunzelnd. Zu Beginn hatte er zwei Gleichgesinnte, die ihm bei der Arbeit halfen, mittlerweile betreibt er die Seite allein. Auch nach seiner langen Forschungszeit macht er immer noch Entdeckungen: „Ende November habe ich endlich die Font Seca bei Palmanyola gefunden." Oft hätte er gehört, es gäbe sie nicht mehr, sie sei ausgetrocknet oder vergraben. Doch schließlich brachte ihn ein Gärtner auf die richtige Spur und verriet ihm, wo der Brunnen, den Morell aus Aufzeichnungen kannte, sich noch heute befindet.

Die genaue Lage der von Menschenhand erschaffenen Wasserstellen hat er im Laufe der Zeit oft durch das Befragen alter Inselbewohner entdeckt. Deren Wegbeschreibungen waren nicht immer akkurat, oft durchstreifte er stundenlang das Gelände, bis er schließlich auf den gesuchten Brunnen stieß. Einen Großteil seiner Zeit verbrachte er im Laufe seiner Recherchen auch in Bibliotheken. In alten Büchern und Archiven finden sich Informationen zu den Brunnen, die in früheren Zeiten fast so wertvoll waren wie Gold.

Dass es auf Mallorca so viele Brunnen gibt, liegt in der Geschichte begründet. Als König Jaume I. die Insel im Jahr 1229 von den Mauren zurückerobert, brachte er Truppen von Adligen und Kirchenmännern - gestellt aus Katalonien, Frankreich und sogar Italien - auf die Insel. Als Entgelt für ihre Dienste winkte Grundbesitz auf Mallorca. Im berühmten Text libre de repartiment wurde ganz genau festgehalten, wer welche Landstriche zugesprochen bekam. „Die Insel wurde damals wie eine Ensaimada aufgeteilt", so Morell. Gerade einmal 26 Brunnen wurden in dem Inventarverzeichnis zur Verteilung der Ländereien aufgeführt. Die heutigen Dörfer Mallorcas waren zur Zeit der Mauren Aussiedlerhöfe, die von einer einzigen Familie bewirtschaftet wurden. Sie entstanden alle am Ufer der torrents (Bachbetten), die damals noch ganzjährig Wasser führten. „Ansonsten war Mallorca zu jener Zeit außerhalb von Palma relativ unbewohnt, da brauchte man schlicht keine Brunnen." Das änderte sich nach der Rückeroberung schlagartig. Die neuen Großgrundbesitzer brachten Siedler mit auf die Insel, damit diese als Pächter das Land bestellten und so Geld einbrachten. Zudem wurden Bewohner Palmas im Zuge der ­repoblació mit Anreizen auf der ganzen Insel verteilt: Wer die Hauptstadt verließ, erhielt ein Haus und ein Stück Land.

Mit der wachsenden Bevölkerung wuchs auch die Nachfrage nach Nahrungsmitteln und somit die Landwirtschaft, für die man ebenfalls Wasser benötigte - Brunnen mussten her. Retter in der Not waren interessanterweise wiederum die Mauren. „Einige von ihnen waren vor der Eroberung Palmas aufs Land geflüchtet. Sie konvertierten zum Christentum und machten sich das Wissen über Brunnenbau zunutze, das sie in auf der Flucht mitgenommenen Büchern und Schriften fanden."

Tatsächlich sind die Brunnen auf Mallorca mehrheitlich in der für den arabischen Raum typischen Qanat-Technik angelegt. Dabei werden horizontale Stollen so lange in den Berg gegraben, bis man auf eine grundwasserführende Schicht stößt. Streng genommen wird laut der Definition des mallorquinischen Historikers Miquel Barceló (1939-2013) nur dann von einem Qanat gesprochen, wenn der ­Stollen in seinem Verlauf über vertikale Lüftungsbrunnen verfügt. Diese erfüllten eine dreifache Funktion: Zum einen konnte der Erdaushub nach oben abtransportiert werden, zum anderen konnten die Steine, mit ­denen die Stollen ausgekleidet wurden, in die Tiefe hinab­befördert werden. Und schließlich versorgten die Schächte die Arbeiter, die rund zehn Meter unter dem Erdboden arbeiteten, mit Sauerstoff und Licht.

Morells Zählung zufolge sind 270 der Brunnen auf Mallorca Qanats im Sinne der Definiton von Barceló. 970 weitere sind fonts de mina, Minenbrunen, die lediglich über einen Stollen ohne Lüftungsschächte verfügen. Dem Brunnenexperten nach liegt der horizontales Brunnenbau in der Geologie der Insel begründet. Unter der ersten, porösen Erd- und Gesteinsschicht, die das Regenwasser filtert, liegt eine zweite aus massivem Gestein, die das Wasser zurückhält. Dazwischen wurden die Stollen gegraben.

Bei der Beschreibung der von den konvertierten Mauren geleisteten Arbeit gerät Morell ins Schwärmen. „Da entstanden teilsweise wahre Kathedralen in Trockensteintechnik. Die Männer verwendeten Tausende von Natursteinen, von denen keiner dem anderen glich, und erschufen mit ihnen doch gleichmäßig gemauerte Tunnel von bis zu zwei Metern Höhe, die teils 20 Meter und länger waren." Sie halten das Gewicht von mehreren Tonnen darüberliegendem Erdboden aus.

Neben den Stollenbrunnen hat Morell auch rund 500 natürlich sprudelnde Quellen gefunden, die allein durch den Druck in den unterirdischen Wasserreservoirs hervortreten und deren Wasser dann in Becken gesammelt wurde. Eine der schönsten dieser natürlichen Quellen ist für ihn die Font Gallarda an der Costa d'Ariant bei Pollença. Nur wenige Meter über dem Meer hat das in einer Grotte austretende Grundwasser mehrere Becken in den Stein geformt, die dann von Menschenhand vergrößert wurden. Das Süßwasser ergießt sich an mindestens drei Stellen ins Meer - was in früheren Zeiten auch Piraten anlockte. ­„Mallorca war bei ihnen auch deshalb so beliebt, weil die Seeräuber an zahlreichen Stellen ­direkt an der Küste ihre Wasservorräte auf­füllen konnten", erklärt Morell.

Aigua dolça, also Süßwasser, ist übrigens auch ein häufig vorkommender Brunnen­name. Der geläufigste Name ist Font de s'Hort, also der Brunnen des Gartens, da die Wasserstellen eben dort angelegt wurden, wo man sie am dringendsten brauchte. Auf Platz zwei der Namensliste folgt Font nova, der neue Brunnen. Der dritthäufigste Name ist Font des Poll, der Brunnen der Pappel: „Damit beispielsweise Schäfer die Brunnen schon von Weitem gut finden konnten, wurde daneben eine Pappel gepflanzt, die höher wuchs als die anderen Bäume und so gut sichtbar war." Morells Kenntnisse über Brunnen und ihre Geschichte sind schier unerschöpflich.

Mittlerweile ist er in Rente und kann sich seiner Passion in Vollzeit verschreiben. Die liebevoll angelegten Eintragungen für jeden einzelnen der Brunnen beinhalten neben einer ausführlichen Beschreibung und mehreren Fotos auch eine von ihm angefertigte Skizze über Aufbau und Verlauf der Wasserstelle. Die genauen Koordinaten der Brunnen sind ebenfalls angegeben. Einer der Gründe, warum er rund 80 Brunnen bis heute nicht mit seinen eigenen Augen gesehen hat: Sie liegen auf privaten Grundstücken, und die Besitzer wollen dem Katalogisierer keinen Zutritt gewähren. „Angeblich fürchten sie, dass ihre Brunnen dann überrannt werden", spottet er. Interessanterweise sind es fast ausschließlich Einheimische, die ihre Brunnen für sich behalten wollen. Viele der ausländischen Finca-Besitzer hätten die Trockenstein-Brunnenbauten auf ihren Grundstücken hingegen aufwendig ­restauriert und seien stolz, wenn sich jemand dafür interessiere.

Um die Karten anzufertigen, in denen er die Brunnen der verschiedenen Regionen der Insel eingetragen hat, trug Morell alle Koordinaten der 1.657 Wasserstellen in einem einzigen Dokument zusammen. „Ich werde oft nach dieser Datei gefragt", sagt er. Zuletzt bei einem Symposium in Barcelona, wo er über die Brunnen der Insel referierte. Doch die im Laufe von neun Jahren entstandene Datei rückt Morell nicht raus: „Sie ist mein best­gehüteter Schatz."