Die Jahre nach dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 waren in Spanien eine aufgewühlte Zeit. Die Massenentlassungen und Ausgabenkürzungen der Regierung führten zu zahlreichen Protesten und Demonstrationen im ganzen Land. Manchmal kam es dabei zu Ausschreitungen, wie bei den Kundgebungen wenige Meter vor dem spanischen Parlament im September 2012.

Mit dem Argument, die öffentliche Ruhe bewahren zu wollen, verabschiedete die damalige konservative Regierung von Mariano Rajoy 2015 ein Gesetzespaket, das den Sicherheitskräften einen sehr weiten Handlungsspielraum einräumte und die Strafen drastisch erhöhte. Das Gesetz für gesellschaftliche Sicherheit wurde von den Kritikern in ley mordaza umbenannt, das „Maulkorbgesetz“. Internationale und heimische Institutionen sowie Medienverbände haben seitdem die Ausweitung der Polizeigewalt scharf kritisiert. Die linken Parteien schrieben sich die Abschaffung der ley mordaza auf die Fahnen.

Nun scheint es so weit zu sein. Die Koalitionspartner der Minderheitsregierung, die Sozialisten (PSOE) von Ministerpräsident Pedro Sánchez und das Linksbündnis Unidas Podemos (UP), sind sich nach eigenem Bekunden bis auf wenige Details einig über eine Reform des ungeliebten Sicherheitsgesetzes. Die wichtigsten Änderungen sind in den Medien bereits durchgesickert.

Mal eben demonstrieren

Laut den geplanten Änderungen müssen spontane Demonstrationen zum aktuellem Geschehen wie umstrittenen Entscheidungen der Politik oder Gerichte nicht mehr unbedingt angemeldet werden. Voraussetzung ist allerdings, dass diese Veranstaltungen friedlich verlaufen und die öffentliche Ordnung nicht stören. Das Sicherheitsgesetz der konservativen Volkspartei (PP) sieht bislang hohe Strafen für solche Proteste vor. Konkret bedeuten die geplanten Änderungen, dass künftig nur noch für Kundgebungen, die terminlich planbar sind wie etwa der Tag der Arbeit oder der Weltfrauentag, vorab eine Genehmigung eingeholt werden muss. Wenn aber Menschen in Reaktion etwa auf einen schwulenfeindlichen Angriff auf die Straße gehen, soll dies keine Sanktionen mehr nach sich ziehen.

Ebenfalls abgeschafft werden Strafen für Personen, die Fotos oder Videos vom Einsatz der Sicherheitskräfte machen. Die Konservativen rechtfertigten dies mit dem Schutz der Beamten vor möglichen Repressionen. Menschenrechtler und Medienvertreter beklagen dagegen, dass Missbrauchsfälle wie übermäßige Gewalt der Polizisten auf Demonstrationen so faktisch nicht mehr belegt werden könnten. Mehrere Pressefotografen wurden im Sinne der ley mordaza in den vergangenen Jahren zu hohen Geldstrafen verdonnert.

Bislang können die Sicherheitsbeamten Demonstranten vor Ort durchsuchen und dabei auch, soweit nötig, entkleiden, vorausgesetzt es besteht ein akutes Risiko. Die Personen können bis zu sechs Stunden auf der Wache festgehalten werden. Die Reform der Linksregierung sieht nun vor, dass die Polizeikräfte die Motivation für die Leibesvisitation und die Mitnahme zur Wache schriftlich festhalten müssen, damit dies im Nachhinein überprüft werden kann. Schließlich sollen die Bußgelder bei Verstößen gegen die Sicherheit gemäß dem Einkommen der Täter festgesetzt werden, um „exzessive Strafen“ zu reduzieren.

Auch in der Pandemie massiv angewandt

Die Verhängung von Strafgeldern unter dem „Maulkorbgesetz“ hat ironischerweise zuletzt unter der spanischen Linksregierung kräftig zugenommen. Schuld daran ist der Lockdown wegen der Corona-Pandemie. Allein in den ersten drei Monaten des Alarmzustands des Jahres 2020, als in ganz Spanien extrem harte Ausgangsbeschränkungen galten, wurden 1,1 Millionen Bußgelder wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt verhängt und 9.000 Personen festgenommen, wie es in einem Bericht des spanischen Ombudsmanns vom Mai heißt.

In diesem Sinne registrierte die unabhängige Behörde einen deutlichen Anstieg der Beschwerden von Bürgern wegen der Vorgehensweise der Polizei. So trafen beim Ombudsmann im vergangenen Jahr 38 Beschwerden wegen mutmaßlicher Misshandlungen durch die Sicherheitsbeamten ein. Im Jahr 2019, vor der Pandemie, waren es lediglich 17. Der Defensor del Pueblo beklagt in seinem Bericht einen Missbrauch der ley mordaza seitens der Sicherheitskräfte und verlangt ebenfalls die Reform einiger Aspekte des Gesetzes.

Auch die Venedigkommission für Menschenrechte des Europarats ging in ihrem Bericht vom vergangenen März hart mit dem spanischen Sicherheitsgesetz ins Gericht. „Angesichts der unpräzisen Definition einiger Vergehen – besonders des Ungehorsams gegenüber der Staatsgewalt – können die Bußgelder eine lähmende Auswirkung auf das Recht der Versammlungsfreiheit haben“, schrieben die Sachverständigen und forderten ihrerseits eine Reform des Gesetzes.

Furcht vor Randale

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Eine völlig andere Sicht der Dinge haben erwartungsgemäß die Sicherheitsbeamten. Obwohl der endgültige Entwurf der Gesetzesreform noch nicht bekannt ist, meldeten sich Polizeigewerkschaften kritisch zu Wort. Die Straffreiheit für die Aufnahme und Verbreitung von Bildern der Beamten im Einsatz bedeute „eine offensichtliche Gefahr für die körperliche Versehrtheit der Beamten und ihrer Familien“, kritisiert etwa die Gewerkschaft SUP. Und wenn Demonstrationsteilnehmer statt sechs nur noch zwei Stunden festgehalten werden könnten, seien spontane Festnahmen nicht mehr möglich. Die CEP, eine Gewerkschaft der Nationalpolizei, warnt zudem davor, die Strafen zu mildern. Schließlich hätten die Fälle von Randale und Übergriffen bei den botellones, wie die massiven Zusammenkünfte von Jugendlichen bei Trinkgelagen genannt werden, zugenommen.

Die Beamten wissen die PP auf ihrer Seite. Die rechtsextreme Vox verlangt gar eine zusätzliche Verschärfung des Sicherheitsgesetzes. Doch der geplanten Reform steht nichts mehr im Wege, zumal dies auch einer Forderung der baskischen Nationalisten (PNV) entspricht. Einzig ausgeklammert wurde die höchst umstrittene Abschiebung von Migranten unmittelbar nach Überschreiten der Grenze, ohne deren Anspruch auf Asyl zu prüfen. Das wollen Sozialisten und Linke im Rahmen des Einwanderungsgesetzes neu definieren.