Spaniens Bevölkerung ist in den vergangenen Jahrzehnten stark gewachsen. Davon kann man sich bei einem Besuch in einer der Großstädte oder den Ballungsgebieten am Mittelmeer leicht überzeugen. Doch gibt es ein anderes Spanien, tief im Inneren der Iberischen Halbinsel. In Kastilien etwa trifft man vielerorts auf vielen Kilometern keinen einzigen Menschen, und die wenigen Orte sind spärlich besiedelt. Die Landflucht, die nach dem Bürgerkrieg Mitte des vergangenen Jahrhunderts begonnen hatte, hat sich fortgesetzt. Viele Gemeinden drohen auszusterben.

Nun wehren sich die Menschen in den verwaisten ländlichen Gegenden, der sogenannten España vaciada, dem „entleerten Spanien“. Der Begriff „entleert“ ist bewusst gewählt, um die Vernachlässigung der Landbevölkerung durch den Staat anzuprangern. Mehrere Dutzend Bürgerbewegungen haben sich zu einer Partei zusammengeschlossen, die bei den kommenden Wahlen ins spanische Parlament einziehen will, um dort die Interessen der Landbevölkerung zu verteidigen.

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Seit Beginn des Jahrhunderts ist die Gesamtbevölkerung um fast 13 Prozent auf 47 Millionen gewachsen. Doch 6.232 der 8.131 Gemeinden des Landes weisen sinkende Einwohnerzahlen auf. Rund 40 Prozent der Menschen leben in den 63 Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern. Die rund 5.000 Ortschaften mit weniger als 1.000 Einwohnern beheimaten dagegen gerade einmal drei Prozent der Bevölkerung. Tendenz rückläufig.

Auf dem Abstellgleis

Es ist ein Teufelskreis. Viele Menschen verlassen ihre Heimatdörfer. Andere ziehen gar nicht erst dorthin – wegen der mangelhaften Grundversorgung durch Schulen, Gesundheitsämter oder Bankfilialen. Doch je weniger Menschen in dünn besiedelten Gebieten leben, desto geringer ist der Anreiz für die Politik und die Privatwirtschaft, dort zu investieren. Die Bürgerbewegungen der España vaciada beklagen das Desinteresse und den Verfall der öffentlichen und privaten Einrichtungen in den Dörfern. Das gilt vor allem für die Verkehrsinfrastruktur wie den Schienenverkehr. In Spanien haben die sozialistischen und konservativen Regierungen in den vergangenen vier Jahrzehnten Milliarden Euro in den Ausbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes AVE investiert, während Hunderte Kilometer an sekundären Bahngleisen stillgelegt wurden.

Am stärksten trifft der Bevölkerungsschwund die weitläufigen ländlichen Regionen in Kastilien-León, Kastilien-La Mancha, Extremadura oder Aragonien, aber auch Teile von Andalusien, Kantabrien, Galicien und Asturien. Ende September trafen Vertreter verschiedener Bürgerinitiativen zusammen und gründeten die Partei España Vaciada. Dieser haben sich mittlerweile 160 Initiativen aus 30 Provinzen angeschlossen.

Vorbild für die Plattform ist der Erfolg von Teruel Existe. Die Bürgerbewegung wurde 1999 in der besonders stark von der Landflucht betroffenen und schlecht angebundenen Provinz Teruel in Aragonien gegründet. Die Aktivisten warben in zahlreichen Gesprächen mit Politikern der großen Parteien um ihre Anliegen und reisten sogar nach Brüssel. Doch mehr als gute Worte kamen dabei nicht heraus. Also wagte man den Schritt und präsentierte sich bei den Parlamentswahlen im November 2019. Teruel Existe holte auf Anhieb einen der beiden Sitze der Provinz im Unterhaus und beide Sitze im Senat. Seitdem ist Tomás Guitarte nicht nur der Abgeordnete von Teruel Existe. Er steht für die Bedürfnisse der gesamten España vaciada.

Jede Stimme zählt

Mit einem von 350 Sitzen des Parlaments hat man eigentlich nur begrenzten Einfluss. Doch in der zersplitterten spanischen Politik zählt jede einzelne Stimme. Die linke Minderheitsregierung kommt nur auf 155 der Abgeordneten und muss für jedes Gesetz mit mehreren Vertretern anderer Parteien verhandeln, darunter auch Guitarte. Das hat sich etwa beim Haushalt für 2022 ausgezahlt, der derzeit durch die parlamentarischen Instanzen geht. Der Abgeordnete von Teruel Existe sicherte sich für seine Stimme Investitionszusagen von 20 Millionen Euro für Teruel zu sowie das Versprechen für einen Autobahnanschluss bis zum Mittelmeer und die Gründung eines Kontrollrates für die in Teruel berühmten Trüffel.

„In vielen Gegenden muss gehandelt werden, bevor es zu spät ist“, erklärte Guitarte. „Wir haben einen politischen und gesellschaftlichen Konsens über dieses Problem erreicht und dank der Gelder aus dem europäischen Aufbaufonds eine große Chance“, so der Vertreter von Teruel Existe.

In vielen anderen Provinzen wollen die Bürgerbewegungen von España Vaciada den Erfolg von Teruel bei den nächsten Parlamentswahlen spätestens Ende 2023 nachahmen. Das spanische Wahlsystem ist dabei ein großer Vorteil. Denn die 350 Abgeordneten des Unterhauses werden nicht rein proportional gewählt, sondern auf die 50 Provinzen verteilt. Jede Provinz schickt mindestens zwei Vertreter in den Congreso de los Diputados nach Madrid sowie zwei in den Senat. Das führt zu erheblichen Ungleichheiten zugunsten der Landbevölkerung. So reichten Teruel Existe 19.000 Stimmen für einen der beiden Sitze. Umfragen haben gezeigt, dass España Vaciada bis zu 15 Mandate erringen könnte. Das würde zur Fraktionsstärke reichen.

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Die neue Plattform hat einen Katalog mit 101 Maßnahmen vorgelegt. Sie fordert etwa den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, eine schnelle Internetverbindung und Einrichtungen der staatlichen Grundversorgung maximal 30 Kilometer vom Wohnort entfernt. Um diese Ziele abzusichern, verlangt España Vaciada eine Änderung der Verfassung, die die dünn besiedelten ländlichen Gebiete rechtlich mit Inselregionen wie den Balearen und Kanaren gleichstellt, die aufgrund ihrer Lage zahlreiche Vergünstigungen und Zuwendungen genießen.

Die Bewegung hat sich Gehör verschafft, die großen Parteien sind nervös geworden. Vor allem die konservative PP und die sozialistische PSOE, aber auch die rechtsextreme Vox, könnten viele Stimmen und Sitze an España Vaciada verlieren.