23 Tote am Grenzzaun von Melilla: Hat die spanische Regierung diese Tragödie geduldet?

Bei dem Vorfall kamen mindestens 23 Migranten zu Tode. Die Aufarbeitung des Dramas lässt die spanische Regierung schlecht dastehen

Geduldete Tragödie?

Geduldete Tragödie? / Aus Madrid berichtet Thilo Schäfer

Thilo Schäfer

Thilo Schäfer

Jedes Jahr kommen Tausende bei dem Versuch zu Tode, ein besseres Leben in Europa zu finden. Die meisten sterben im Mittelmeer oder im Atlantik. Doch auch an den Grenzen der beiden spanischen Exklaven in Nordafrika, Ceuta und Melilla, kommt es zu tragischen Vorfällen. Die letzte Katastrophe ereignete sich im Juni, als Dutzende Migranten am Grenzübergang zwischen Marokko und Melilla ihr Leben verloren. Die spanischen Behörden stehen im Verdacht, die fatalen Ereignisse geduldet zu haben. Innenminister Fernando Grande-Marlaska ist nach seinen widersprüchlichen Aussagen zu dem Drama unter enormem Druck von Medien, Nichtregierungsorganisationen und der EU. Die konservative Opposition fordert lautstark seinen Rücktritt.

Was geschehen war

Am frühen Morgen des 24. Juni stürmten Hunderte – manche Quellen gehen von 1.700 aus, viele davon aus dem kriegserschütterten Sudan – den Grenzposten im barrio chino von Melilla. Auslöser des verzweifelten Versuchs, auf diesem Wege europäisches Gebiet zu erreichen, war offenbar eine Razzia der marokkanischen Behörden am Tag zuvor in den Bergen rund um die Enklave, wo seit Jahren Menschen aus Afrika und anderen Regionen campieren und ihren Sprung nach Europa vorbereiten. An jenem Morgen erklommen Dutzende den acht Meter hohen Zaun, der an einer Stelle einbrach. Die marokkanischen Sicherheitskräfte gingen mit extremer Härte gegen die Migranten vor. Bilder und Zeugenaussagen belegen den Einsatz von Tränengas und Knüppeln, auch von Gummigeschossen.

Einigen Hundert Personen gelang es, nach Melilla zu kommen. Doch die Mehrheit wurde von der spanischen Polizei aufgegriffen und sofort wieder nach Marokko zurückgebracht, ohne die Chance auf einen Asylantrag. Diese häufige Praxis der devolución en caliente („heiße Abschiebung“) wird von Menschenrechtlern seit Langem stark kritisiert. Doch schlimmer wogen die vielen Toten am Grenzzaun und in dem umzäunten Innenhof des Übergangs. Die Behörden räumen eine Zahl von 23 Opfern ein, bei Nichtregierungsorganisationen ist von mindestens 40 die Rede. Die genaue Zahl wird wohl nie ermittelt, da die marokkanischen Behörden laut den Organisationen Leichen unidentifiziert begruben.

Vorschnelle Bewertungen

Das Drama warf ein schlechtes Licht auf die Einwanderungspolitik der spanischen Regierung. Premier Pedro Sánchez lobte noch am selben Tag die „außergewöhnliche Arbeit der marokkanischen Regierung in Zusammenarbeit mit den spanischen Sicherheitskräften, die den Vorfall gut gelöst haben“. Kurz darauf ruderte der Sozialist zurück und erklärte, er habe die Bilder der Polizeigewalt und der Toten noch nicht gekannt. Doch hat sich eben jene Zusammenarbeit mit den Marokkanern unzweifelhaft geändert, seit sich Sánchez in einer überraschenden Kehrtwende im März auf die Seite Rabats im jahrelangen Konflikt um die Westsahara geschlagen hatte. Im Gegenzug sicherten die Marokkaner ein entschiedeneres Vorgehen gegen Migranten auf ihrem Gebiet zu.

Nur Tage nach der Tragödie in Melilla bestätigte Innenminister Marlaska auf einem Besuch in Rabat die „wichtige“ Rolle Marokkos im Umgang mit der Migration. Im spanischen Unterhaus behauptete der Minister, dass die gewaltsamen Vorfälle auf keinen Fall auf spanischem Hoheitsgebiet stattgefunden hätten. Doch wo genau verläuft die Grenze? Der Innenhof zwischen den Grenzübergängen auf der marokkanischen und der spanischen Seite, wo viele zu Tode kamen, sei „Niemandsland“, so das Innenministerium.

Journalistische Aufarbeitung

Der Skandal schien über die Sommerferien ziemlich in Vergessenheit geraten zu sein. Doch dann veröffentlichte die BBC am 1. November eine aufwendige Reportage über die Vorfälle in Melilla, für die Stunden an Aufzeichnungen der Überwachungskameras ausgewertet und zahlreiche Zeugen befragt worden waren. Der Sender kam zu dem Schluss, dass marokkanische Polizeibeamte auch in dem Teil des Grenzübergangs agiert hatten, den Spanien als eigenes Gebiet bezeichnet. Marlaska räumte daraufhin ein, dass die Marokkaner tatsächlich auf spanischem Boden eingegriffen hätten. Tote hätte es dabei jedoch nicht gegeben. Diese Aussage wurde wiederum von Mitgliedern des Innenausschusses des spanischen Parlaments widerlegt, die bei einem Besuch in Melilla selbst die Aufnahmen der Kameras einsehen durften. „Alles deutet daraufhin, dass es Tote in dem Gebiet gab, die den spanischen Behörden untersteht“, erklärte Enrique Santiago, Abgeordneter des Linksbündnis Unidas Podemos (UP), dem Koalitionspartner von Sánchez’ Sozialisten.

Eine weitere journalistische Aufarbeitung der Ereignisse des Konsortiums Lighthouse Reports in Zusammenarbeit mit internationalen Medien, darunter der Zeitung „El País“, erhärtete den Verdacht, dass marokkanische Beamte Leichen aus spanischem Gebiet unter den Augen der spanischen Sicherheitskräfte herausgeholt hatten. Der Antrag von UP und weiterer Parteien auf einen Untersuchungsausschuss wurde mit den Stimmen der PSOE von Sánchez und der konservativen PP abgelehnt. Doch nun ermittelt die Staatsanwaltschaft für Ausländerfragen.

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