Wie es zur Verfassungskrise in Spanien kommen konnte - und wie es jetzt weitergeht

Erstmals haben die Verfassungsrichter in ein laufendes Gesetzgebungsverfahren eingegriffen. Regierung und Opposition werfen sich gegenseitig einen „Staatsstreich“ vor

Plenum des spanischen Verfassungsgericht (Archiv).

Plenum des spanischen Verfassungsgericht (Archiv). / JOSE LUIS ROCA

Thilo Schäfer

Thilo Schäfer

In der Vorweihnachtszeit wird im Streit in der spanischen Politik keine Pause eingelegt, vielmehr hat er eine kaum für möglich gehaltene neue Eskalationsstufe erreicht. Die Linksregierung und die rechts-konservative Opposition beschuldigen sich gegenseitig, einen Staatsstreich zu verfolgen. Das politische Tauziehen um die Neubesetzung von Posten im Verfassungsgericht hat das Land in eine schwere institutionelle Krise gestürzt. In einer einmaligen Entscheidung stoppten die Verfassungshüter ein laufendes Gesetzesverfahren im Parlament, das ein Ende der Blockade der Ernennung der Richter zum Ziel hatte. In Brüssel wächst die Sorge um die Lage in der spanischen Justiz, zumal sämtliche Mahnungen der Kommission von Spaniens Politikern bisher in den Wind geschlagen worden sind.

Es läuft ein Machtpoker um die obersten Justizorgane. Die obersten Richter in Spanien sind zwar formell unabhängig. In der Praxis werden sie jedoch von den großen Parteien auf ihre Posten befördert und zeigen dafür Loyalität bei wichtigen Abstimmungen. Das Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional) hat zwölf Mitglieder, von denen elf stimmberechtigt sind – einer der Juristen darf als Sekretär des Plenums nicht mit abstimmen. Davon werden jeweils vier Mitglieder vom Unterhaus und vom Senat gewählt. Zwei Magistrate ernennt der Generalrat der rechtssprechenden Gewalt (Consejo General del Poder Judicial, CGPJ), das oberste Verwaltungsorgan des spanischen Justizsystems. Und weitere zwei Verfassungsrichter kann die Zentralregierung direkt bestimmen.

Konservativ und Progressiv

Derzeit gehören sechs der stimmberechtigten Mitglieder des Tribunal Constitucional (TC) zum konservativen Block, die übrigen fünf werden den progressiven Kräften zugerechnet. Im Juni lief das Mandat der vier vom CGPJ und von der Regierung ernannten Richter ab. Doch die Neubesetzung scheiterte bislang am CGPJ. Dieses Organ hätte eigentlich auch schon vor vier Jahren neu besetzt werden müssen. Der Generalrat der Justiz spiegelt in der Regel die politischen Mehrheitsverhältnisse im Parlament wider. Die aktuelle Besetzung stammt noch aus der Zeit, als die Volkspartei (PP) an der Macht war. Nachdem der Sozialist Pedro Sánchez 2018 an die Macht gekommen war, weigerte sich die PP jedoch, ihrer verfassungsmäßigen Pflicht zur Neubesetzung des CGPJ nachzukommen. Dabei begründen die Konservativen ihr Veto mit unterschiedlichen Argumenten, von Bedenken gegenüber dem Koalitionspartner der Sozialisten, dem Linksbündnis Unidas Podemos, bis zur Abhängigkeit der Regierung von den Stimmen der katalanischen und baskischen Separatisten.

Blockade durch die PP

Die konservative Mehrheit im CGPJ konnte bisher die Wahl der beiden Juristen blockieren, die dieses Organ ins Verfassungsgericht entsendet. Dadurch kann auch die Regierung ihre beiden Vertreter nicht ernennen, da diese vier neuen Mitglieder des TC als Block gewählt werden müssen. Regierungschef Sánchez wollte aber nicht mehr länger warten. Mit einer Gesetzesreform will er ermöglichen, dass die Regierung ihre beiden Kandidaten für das Verfassungsgericht wählen kann, ohne auf die Wahl der anderen beiden durch den CGPJ warten zu müssen. Dadurch würde sich das Machtverhältnis im Plenum der Verfassungshüter zugunsten der linken Kräfte umkehren. Denn die beiden Kandidaten von Sánchez – ein früherer Justizminister der Sozialisten und eine ehemalige Rechtsberaterin der Regierung – ersetzen die zwei konservativen Richter, die noch vom vorherigen konservativen Premier Rajoy ernannt worden waren.

Abstimmen über eigenen Posten

Die PP rief daraufhin in einem Eilantrag die Verfassungsrichter dazu auf, die Reform zu stoppen. Und so geschah es am Tag, nachdem das Unterhaus das Gesetzespaket mit großer Mehrheit absegnete. Somit kann die Reform nicht wie vorgesehen den Senat passieren. Es ist das erste Mal, dass das Verfassungsgericht in ein laufendes Gesetzesverfahren eingreift. Normalerweise prüft das TC die Verfassungsmäßigkeit erst, wenn ein Gesetz in Kraft getreten ist. Brisant bei der Entscheidung des Verfassungsgerichts ist des Weiteren, dass die beiden konservativen Vertreter, deren Mandat seit Juni abgelaufen ist, somit über ihre eigenen Posten mit abgestimmt haben.

Dieser einmalige Vorgang löste wütende Proteste und die Anschuldigungen des Staatsstreichs aus. „Sie sind zu weit gegangen“, warnte Sánchez die Konservativen. Der Oppositionsführer, Alberto Núñez Feijóo, verteidigte den Eilantrag der PP mit dem demokratisch fragwürdigen Argument, man müsse „die Institutionen vor den Politikern schützen“. Der Vorsitzende der Konservativen wiederholte sein Angebot an die Regierung, die Krise mit einer umfangreichen Justizreform zu lösen, die eine „Entpolitisierung“ der Rechtsorgane sichern solle. In den vielen Jahren, als die Konservativen an der Macht gewesen waren, hatten sie kein Interesse daran, den politischen Einfluss auf die Justiz aufzugeben.

Dann eben anders

Ausschlaggebend für den Rückschlag beim TC war ein Formfehler. Denn die Änderung des Ernennungsverfahrens für das Verfassungsgericht wurde als Zusatz der Reform des Strafgesetzes durchs Unterhaus gepeitscht, die den Strafbestand des „Anstiftung zum Aufruhr“ (sedición) abschafft. Die Rechten beschuldigen Sánchez, die katalanischen Separatisten im Gegenzug für deren Stimmen im spanischen Parlament belohnen zu wollen. Nun plant die Regierung ein neues, eigenes Gesetz auf den parlamentarischen Weg zu bringen, welches die Ernennung der zwei Posten durch die Exekutive ermöglicht.

Diese Regierung wird die Verfassung einhalten“, so Sánchez am Mittwoch im Unterhaus an die Adresse der Konservativen, „aber nicht die von ihnen vertretene Verfassung, sondern die, so wie sie geschrieben steht und vom spanischen Volk beschlossen wurde.“