Neuwahlen in Spanien am 23. Juli: Pedro Sánchez tritt die Flucht nach vorn an

Nach dem Wahldebakel zieht Premier Pedro Sánchez die Wahlen überraschend auf den 23. Juli vor. Es ist ein Manöver ganz nach seinem Geschmack – und könnte doch in seinem politischen Ende münden

Pedro Sánchez ließ sich am Dienstag – bewusst oder aus Versehen – vor einem Bild des durch ihn abgelösten Mariano Rajoy (PP) fotografieren.   | F.: PARRA

Pedro Sánchez ließ sich am Dienstag – bewusst oder aus Versehen – vor einem Bild des durch ihn abgelösten Mariano Rajoy (PP) fotografieren. | F.: PARRA / Aus Madrid berichtet Thilo Schäfer

Thilo Schäfer

Thilo Schäfer

Pedro Sánchez hat in seiner politischen Laufbahn mehrfach mit überraschenden, wagemutigen Schachzügen triumphiert. Etwa als er 2017 den Vorsitz der Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) gegen das Partei-Establishment zurückeroberte. Oder mit dem konstruktiven Misstrauensvotum, das ihm 2018 ermöglichte, den konservativen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy an der Macht abzulösen. Nun riskiert Pedro Sánchez seine politische Zukunft mit einem erneut unerwarteten Manöver: die Einberufung von Neuwahlen am 23. Juli, ein halbes Jahr früher als vorgesehen.

Der Ministerpräsident reagierte mit der Ankündigung der Wahlen am Montag (29.5.) auf das Debakel seiner Sozialisten und der Linken bei den regionalen und kommunalen Wahlen am Tag zuvor. In den Umfragen hatte sich ein schlechtes Abschneiden des linken Lagers und ein Wachstum der Konservativen angedeutet, doch das Ergebnis übertraf bei Weitem die schlimmsten Befürchtungen der Regierung. Die konservative Volkspartei (PP) kann die Sozialisten in sechs autonomen Gemeinschaften ablösen, darunter die Balearen und die Region Valencia. Die PSOE verlor auch in zahlreichen großen Städten, sogar in Hochburgen wie Sevilla. In Madrid erreichte die PP sowohl im Landesparlament als auch im Rathaus der Hauptstadt eine absolute Mehrheit. Die Medien sprachen von einem „blauen Tsunami“ in Anspielung an die Farben der PP.

Wirtschaftliche Lage nicht im Vordergrund

In seiner Fernsehansprache vor dem Moncloa-Palast, dem Amtssitz des Ministerpräsidenten, sprach Sánchez von der Notwendigkeit einer „Klarstellung“ durch die spanischen Wählerinnen und in Spanien. „Eine Klarstellung über den politischen Kurs der nationalen Regierung und eine Klarstellung darüber, welche politischen Kräfte diese Phase führen sollen.“ Zum Leidwesen der Linksregierung stand die wirtschaftliche Lage im Wahlkampf nicht im Vordergrund. Spanien hat die Multikrise aus Pandemie, Krieg und hoher Inflation besser gemeistert als viele Nachbarn in Europa. Die Wirtschaft wuchs im ersten Quartal um 3,8 Prozent, der Arbeitsmarkt entwickelt sich positiv, und die Preissteigerung ging im Mai auf 3,2 Prozent zurück.

Doch die Konservativen schafften es, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken und das schlechte Image der Linksregierung sowie die Verärgerung in der Gesellschaft auszuschlachten. Die Kandidaten der PP stellten die Tatsache in den Vordergrund, dass die Minderheitsregierung im Parlament regelmäßig auf die Stimmen der katalanischen und baskischen Nationalisten angewiesen war, vor allem auf Bildu – einer Partei, die bei den Kommunalwahlen im Baskenland verurteilte Mörder der Terrororganisation ETA aufstellte. Auch die ständigen Querelen und Streitereien innerhalb der Koalition – der ersten auf nationaler Ebene seit Ende der Franco-Diktatur – vergrätzten wohl zahlreiche Wähler. Bestes Beispiel waren die monatelangen Debatten um ein verunglücktes neues Sexualstrafrecht.

Bescheindener Optimismus

Sánchez tritt mit dem Vorziehen der Wahlen zum Unterhaus und Senat die Flucht nach vorne an. Für die Entscheidung gibt es gute Gründe. Erstens vermeidet der Sozialist damit Abnutzungserscheinungen. Würde er, wie ursprünglich vorgesehen, bis Ende des Jahres im Amt bleiben, könnte ihn die Opposition als „lahme Ente“ hinstellen, die sich an die Macht klammert. Doch auch die Ergebnisse vom 28. Mai geben bei genauerem Hinschauen Anlass für bescheidenen Optimismus. Bei den landesweiten Kommunalwahlen lag die PSOE mit 28 Prozent der Stimmen nur 3,5 Punkte hinter der PP. Das eigentliche Problem war das noch schwächere Abschneiden der linken Partner der Sozialisten, die sich vielerorts nicht auf gemeinsame Listen einigen konnten, sodass sich die Stimmen aufteilten und nicht für den Einzug in die Parlamente und Rathäuser reichten.

Das könnte sich am 23. Juli ändern. Die Arbeitsministerin Yolanda Díaz, die Politikerin mit den besten Umfrageergebnissen im Lande, tritt mit ihrer neu gegründeten Plattform Sumar an, um die Parteien links der PSOE zu einigen. Die Linkspartei Podemos hat nach ihrem desaströsen Abschneiden bei den Regionalwahlen nun kaum noch eine andere Wahl, als sich Sumar anzuschließen, um nicht irrelevant zu werden. Nur mit einer starken Linken kann Sánchez auf eine Neuauflage seiner Koalitionsregierung hoffen.

Rechtsextreme als Schreckgespenst

Bei den Linken setzt man auch darauf, dass die bevorstehenden Verhandlungen der PP mit der rechtsextremen Vox ihnen in die Karten spielen können. Vielerorts können die Konservativen nur mit Vox an die Macht kommen. Sollten die Rechtspopulisten mit schrillen Tönen und extravaganten, radikalen Forderungen für Schlagzeilen sorgen, könnte das gemäßigte Wähler verschrecken, vor allem aber das linke Lager mobilisieren. Denn der „blaue Tsunami“ am Sonntag erklärt sich auch durch die geringe Beteiligung der linken Stammwähler.

Doch der Rückenwind weht klar für den PP-Chef Alberto Núñez Feijóo. Der Oppositionsführer eröffnete den Wahlkampf für den 23. Juli mit demselben Motto wie in der Kampagne für den 28. Mai. „Man muss sich entscheiden zwischen Sánchez oder Spanien.“ Die Devise hat er seiner Parteifreundin Isabel Díaz Ayuso entliehen, die mit einem knallharten Konfrontationskurs gegen die spanische Regierung in der Region Madrid eine absolute Mehrheit errang.

Das Aus von Ciudadanos

Ein weiterer großer Vorteil für die Konservativen ist das Aus der liberalen Ciudadanos. Die Partei ist bei den regionalen und kommunalen Wahlen praktisch von der Bildfläche verschwunden und hat beschlossen, am 23. Juli gar nicht erst anzutreten. Ihre Stimmen dürften überwiegend der PP zukommen.

PP und Vox bräuchten eine gemeinsame absolute Mehrheit, denn unter den vielen kleinen Splitterparteien im Unterhaus wird so gut wie niemand eine Minderheitsregierung mit Vox-Beteiligung unterstützen. Eine Blitzumfrage von elconfidencial.com am Mittwoch gab PP und Vox eine klare Mehrheit von 190 der 350 Sitze. Brisant ist, dass die Neuwahlen in die spanische EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr fallen. Auch das erfordere, so der Ministerpräsident, eine Klarstellung der Wählerinnen und Wähler.

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