Manche hatten sich in die rot-gelbe Flagge eingehüllt, was bei jungen Mädchen und auch bei einigen Berufstätigen aus dem angeblich ältesten Gewerbe der Welt das einzige Kleidungsstück war - durchaus verständlich an den heißen Nachmittagen des Madrider

Sommers.

Das Meer der Fahnen ging schon manchen Spaniern auf die Nerven, es erinnerte sie an die patriotischen Demonstrationen, die der frühere Diktator Franco organisierte, um damit gegen das ýböse, gottlose, marxistische oder auch liberale Ausland" zu protestieren. Das Zentrum der fahnenschwingenden Massen war die Plaza de Colón, der Kolumbusplatz in Madrid, auf welcher der private Fernsehsender Cuatro auf gigantischen Leinwänden spanische Spiele übertrug. Hoch oben über diesem Platz hängt die größte Fahne Europas in den spanischen Nationalfarben Rot und Gelb. Diese hat ein ehemaliger konservativer Verteidigungsminister dort gehisst.

Die patriotischen Übertreibungen mögen vielen Spaniern und Touristen in Spanien lästig gewesen sein. Doch hatte Spaniens Nationalmanschaft bisher erst einen großen Titel gewonnen - 1964 besiegte Spanien im Madrider Bernabeu-Stadion mit General Franco auf der Ehrentribüne die damalige Sowjetunion mit 2:1 im EM-Endspiel. 1984 kam Spanien wieder ins Finale, verlor aber die EM gegen Frankreich. Einen Weltmeistertitel hat Spanien bisher noch nicht gewonnen.

Die großen Fußballerfolge Spaniens waren fast immer die einzelner Clubs, vor allem von Real Madrid, der neunmal den Europapokal, später die Champions League, gewann. Die Erfolge einzelner Clubmanschaften wurden nicht immer in allen Landesteilen mit gleicher Begeisterung gefeiert, obwohl Vereine wie Real Madrid und FC Barcelona auch zahlreiche Anhänger außerhalb ihrer Heimatstädte haben. Für eine die ganze Nation umfassende Begeisterung fehlte tatsächlich noch ein Europa- oder ein Welttitel der nationalen Auswahl.

Es gibt auch viele Intellektuelle im Land, die glauben, der Fußball sei in Spanien und im übrigen Europa ein vergleichsweise ungefährliches Feld, auf dem sich nationalistische Gefühle, wie sie in allen Ländern existieren, austoben können. Deshalb sollte man den derzeitigen Patriotismus-Überschwang akzeptieren. Die gleichen Personen, die beim Fußball von nationalistischen Gefühlen ergriffen werden, seien in anderen wichtigen Fragen tolerant gegenüber Ausländern.

In Spanien glaubt man zudem, dass die Fußballerfolge auch die nationale Identität stärken könnten. Zwar ist Spaniens Einheit nicht in Gefahr, so wie das manche ultrakonservative und nationalistische Politiker hin und wieder behaupten. Doch gibt es einige Regionen, wo sich einige Menschen mehr als Basken oder Katalanen fühlen denn als Spanier. Über Erfolge der spanischen Nationalmanschaft freuen sie sich aber trotzdem.

Die ýBaskisch-Nationalistische Partei" (PNV) beging denn auch einen großen Fehler, als mehrere ihrer Politiker erklärten, sie würden, da das Baskenland nicht mit einer eigenen Manschaft mitspielen darf, am liebsten Russland, das schließlich in einer Niederlage gegen Spanien im Halbfinale ausschied, als Europameister sehen. Die PNV führt die autonome Regierung des Baskenlandes. Trotz des Wunsches ihrer regierenden Politiker feierten in Bilbao und anderen baskischen Städten viele Menschen den spanischen Sieg auf der Straße.

Auch einige Politiker der ýRepublikanischen Linken Kataloniens" (ERC), einer Partei, welche die Unabhängigkeit Kataloniens als Ziel hat und als Minderheitspartner der sozialistisch geführten katalanischen Regierung angehört, hätten den Sieg der übrigen im Viertelfinale stehenden Manschaften, also Deutschland, Russland oder der Türkei, lieber gesehen als einen Sieg Spaniens. In Barcelona, der Hauptstadt Kataloniens, protestierten einige Bürger, da die Stadtregierung keine großen Leinwände für Public Viewings auf den wichtigen Plätzen der Stadt erlaubt hatte.

Der Ruhm der siegreichen Mannschaft strahlt nun auch auf die Politik ab: Am Dienstag (1.7.) wurde das spanische Nationalteam von König Juan Carlos und Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero empfangen. In den meisten Ländern wirken sich internationale Erfolge ihrer Nationalmanschaft zudem positiv auf die Arbeitsmoral der Bevölkerung aus. Es wäre der spanischen Wirtschaft gerade in der derzeitigen Krise zu gönnen, dass die Europameisterschaft im Fußball den gleichen Effekt hätte. Denn noch ist Spanien das Land mit der geringsten Produktivität in Europa. In der Druckausgabe lesen Sie außerdem:

EM I: Freud und Leid auf der geteilten Fußballinsel

EM II: Der Witz des Luis Aragonés

EM III: Tourismusminister Buils über das Endspiel und seine Folgen

Radsport: Tour-Start ohne Mallorquiner und Titelverteidiger