Nein, ein Zucken in den Beinen verspürt Marcel Wüst dieser Tage nicht mehr, wenn er die Tour de France im Fernsehen anschaut. Vor zwölf Jahren, kurz bevor er wegen eines Sturzes seine Karriere beenden musste, gewann er selbst eine Etappe. „Die Zeiten sind vorbei, ich bin froh, dass ich da nicht mehr mitfahren muss", sagt der ehemalige Radprofi am Telefon. Er fährt gerade in den Alpen zu einem Fotoshooting. Danach kommt der 45-Jährige wieder auf seinen neuen Lebensmittelpunkt Mallorca, wo er in seiner „Casa Ciclista" in Cala Murada Radurlaube anbietet.

Interessiert Sie die Tour de France überhaupt noch?

Natürlich, ich verfolge das Rennen aufmerksam. Vor allem die Berg­etappen sind für mich als ehemaliger Sprinter ein Genuss. Zudem kenne ich ja noch viele Fahrer persönlich. Solche Kämpfer wie Jens Voigt zum Beispiel. Das sind einfach geile Typen. Haben Sie gesehen, was der bei der zehnten Etappe für einen Wahnsinns-Kraftakt vollbracht hat und wie er fast noch das Teilstück gewonnen hätte? Und das mit 41 Jahren!

Da könnten Sie auch noch mitfahren. Sie sind nur vier Jahre älter.

Nein, auf keinen Fall. Ich weiß ja, wie sehr das wehtut. Jeden Tag musst du aufs Neue wieder ran, drei Wochen lang. Gerade die Bergetappen sind heftig. Der Kraftverschleiß bei der Tour de France ist enorm. In der letzten Woche ist das ganze Fahrerfeld praktisch ein Friedhof auf ­Rädern. Wenn man die zu einem Arzt schicken würde, und der wüsste nicht, dass die gerade die Tour fahren, würde er ihnen sofort zwei Tage Bettruhe verordnen.

Zufrieden mit dem Niveau der diesjährigen Tour?

Ja, sehr. Es gibt nämlich diesmal keinen Fahrer, der zehnmal stärker ist als alle anderen. Ich bin vor allem auch von den deutschen Fahrern begeistert. Leider hat Tony Martin ja sehr viel Pech gehabt. Um ein Haar hätte er das Gelbe Trikot erobert. Dann wäre ihm auch der Unfall nicht passiert, bei dem er sich die Hand gebrochen hat. Er wäre dann nämlich taktisch ganz anders gefahren.

Man könnte auch sagen, in diesem Jahr fehlen die großen Namen, wie Andy Schleck oder Alberto Contador ?

Ja, aber das ist eine Chance für andere Fahrer, auf sich aufmerksam zu machen. Eine Entdeckung wie ­Tejay van Garderen zum Beispiel. Den hat doch vorher außerhalb der Radsportszene niemand gekannt. Jetzt ist er einer der neuen Stars. Das ist gut für den Sport.

Ein anderer, der von den prominenten Ausfällen profitiert, ist Bradley Wiggins, der die Tour für das Team Sky gewinnen soll. Gleichzeitig provoziert er aber auch mit Worten und seinem Verhalten. Sind solche Leute dem Radsport dienlich?

Wiggins ist, wie Mark Cavendish auch, ein Großmaul. Aber ich finde, wer in fünf Tour-Jahren 19 Etappen gewonnen hat, darf auch mal sein Maul aufreißen. Wenn er die Tour gewinnt und dabei die Gegner nicht beleidigt, ist mir das recht. Und mal ehrlich: Den Medien ist doch ein etwas rüpelhafter Star lieber als einer der sagt: Ich möchte gerne die Tour gewinnen, aber die anderen sind auch stark.

Das war ja eher so die Masche von Alberto Contador. Können Sie sich vorstellen, was er gerade macht? Sitzt Contador verbittert zu Hause?

Nein, der ist garantiert nicht verbittert, sondern wird vormittags trainieren und sich am Nachmittag mit einem isotonischen Getränk auf die Couch setzen und die Tour anschauen. Für ihn ist das ja auch eine Vorbereitung auf die Spanien-Rundfahrt, bei der er nach Ablauf seiner Sperre wieder dabeisein darf. Er beobachtet ganz gemütlich vom Sofa aus seine Gegner.

Gegner, die jeden Tag schier unmenschliche Leistungen vollbringen. Geht das ohne Doping?

Klar geht das. Aber solange Leute wie Rémy di Grégorio während der Tour hops genommen werden, kann man das in Deutschland niemandem verklickern. Ist doch logisch: Wer als größte Leistung in seinem Leben drei volle Einkaufstüten in den zweiten Stock geschleppt hat, kann sich das eben nicht vorstellen.

Aber es gab ja inzwischen genügend positive Doping-Proben im Radsport.

Schon. Aber dass diese Problematik immer nur auf den Radsport begrenzt wird, ist der blanke Hohn. Auf der Liste des Doping-Arztes Eufemiano Fuentes standen doch 150 Namen. Da gab es Namen des America´s Cup, vom FC Barcelona, vom FC Valencia, Tennisspieler. Aber wenn in den anderen Sportarten der Deckel hochgehen würde, könnte man ja nicht mehr auf den Radsport zeigen. Ein Gutes hatten die Skandale aber auch: Der Radsport ist meiner Meinung nach inzwischen der sauberste Sport.

Die Tour de France geht im kommenden Jahr in die 100. Auflage. Wünschen Sie sich Veränderungen bei der Rundfahrt?

Das Problem der Tour ist ja, dass der Sieger aufgrund der Teamstrategien relativ früh feststeht. Es sei denn, er stürzt oder wird disqualifizert. Die Tour hat also eine gewisse Vorhersehbarkeit. Ich wäre dafür, in der dritten Tour-Woche eine Bergetappe mit einem 150-Kilometer-Zeitfahren anzusetzen. Der Gesamtführende sollte starten und die anderen Fahrer gemäß ihrem Rückstand auf den Führenden folgen. Da würde man einige Überraschungen sehen, das Klassement würde noch einmal schön durcheinander gewirbelt.

Wäre es auch denkbar, dass eine Etappe der Tour de France mal auf Mallorca stattfindet?

Daran glaube ich nicht. Schließlich ist Mallorca ja keine französische Insel. Und bei Korsika hat es immerhin hundert Jahre gedauert, bis sie ins Programm genommen wurde: Im kommenden Jahr findet dort zum ersten Mal eine Etappe statt.

Mallorca ist mit dem Katusha-­Profi Joan Horrach immerhin auch diesmal wieder vertreten. Kennen Sie ihn und verfolgen Sie seine Teilnahme?

Auf der Insel kennt man sich Ich bin zwar nicht tagesaktuell über seine Platzierung informiert. Aber sollte er mal um einen Etappensieg mitfahren, wüsste ich schon, wem ich die Daumen drücken würde.

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- Mallorcas Olympia-Schwimmerin Melanie Costa

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