Ein Wechsel auf der deutschen Trainerbank steht bevor. Nein, es gibt keine Kehrtwende im Fall Joachim Löw. Horst Hrubesch, Interimstrainer der Frauen, geht in Rente. Martina Voss-Tecklenburg, 125-fache Nationalspielerin, ersetzt ihn. Die Duisburgerin führte die Schweiz als Trainerin 2015 erstmals zu einer WM und 2017 erstmals zu einer EM. Frühestens im September leitet sie die deutsche Frauen-Nationalmannschaft. Die MZ traf sie auf dem Sommerfest der MZ in Llucmajor und sprach mit ihr über die Männer-WM und die Entwicklung im Frauenfußball.

Welche Teams waren für Sie die Überraschungen bei der WM?

Wenn man es positiv formuliert, waren das die Russen, die besser als erwartet gespielt haben und die Belgier. Die wurden zwar seit Jahren als Geheimfavorit gesehen, haben das aber endlich auf den Platz gebracht. Negativ war das frühe Ausscheiden der Top-Favoriten Deutschland, Spanien und Brasilien.

Was sind die Gründe für das Favoritensterben?

Der Weltfußball ist eng zusammengerückt. Viele Nationalmannschaften haben Spieler in den Top-Ligen und gute Trainer. Bei einer EM oder WM schlägt man heute niemanden mehr so einfach. Die „Kleinen" haben gelernt, zu verteidigen. Die „Großen" haben zu sehr auf Ballstafetten gesetzt und die Individualität vergessen. Die braucht man aber, um defensiv gut stehende Mannschaften zu überwinden. In diese Richtung wird sich der Fußball nun entwickeln.

Wobei Teams wie Deutschland und Spanien genug individuelle Klasse haben dürften...

Jein, der Fußball war zu sehr auf Ballbesitz und direkte Pässe ausgerichtet. Aus meiner Sicht bekommt man dadurch nicht so viele Torchancen, als wenn ein Spieler durch Dribbling in den Strafraum für Gefahr sorgt. Die Favoriten haben bei der WM viel um den Strafraum herum gespielt, sind aber selten hineingekommen.

Sie hatten die Belgier angesprochen. Bei den Kroaten ist es ähnlich. Beide Teams werden wegen ihrer individuellen Klasse seit Jahren als Favoriten gehandelt, enttäuschten aber meist. Was hat sich dieses Jahr geändert?

Sie haben aus den Vorjahren gelernt. Niemand kann dir diese Turniererfahrung ersetzen. Du kannst eine gute Basis, Talent und individuelle Qualität haben, aber ohne diese Erfahrung scheiterst du oft früh. Beide Teams bringen jetzt diese Reife auf den Platz.

Die größte Waffe der Belgier ist das schnelle Umschaltspiel. Viele Mannschaften haben bei der WM auf die Kontertaktik gesetzt. Ist das der neue Trend?

Es war früher schon einmal eine Zeit lang der Fall, dass man dem Gegner den Ball überlassen hat und dessen Fehler zu Toren nutzte. Es kommt aber auch auf die richtigen Spieler an und die hat Belgien gerade. Sie warten bei Eckbällen gegen sich schon auf den eigenen Konterangriff. Da macht sie gefährlich. Mir hat es Spaß gemacht, ihnen dabei zuzusehen.

Ein weiterer Trend ist die Fünfer-Abwehrkette. Die galt vor ein paar Jahren noch als antik und für den heutigen Fußball undenkbar. Was macht sie jetzt so modern?

Weil heute die Außenverteidiger im Ballbesitz mit nach vorne rücken. Das sorgt für Überzahl im Mittelfeld. Aber auch hier braucht man wieder die Spieler dafür. Die Engländer haben es perfekt vorgemacht. Sie haben laufstarke Spieler, die offensiv und defensiv denken können. Das zeigt, wie komplex die Ausbildung im heutigen Fußball ist.

Teams mit viel Ballbesitz hatten oft das Nachsehen. Ist das spanische Kurzpass-System Tiki-Taka überholt?

Das glaube ich nicht. Die Spanier werden immer Tiki-Taka spielen. Das liegt in deren DNA. Im Mittelfeld ist diese Passsicherheit super. Im Angriff braucht man aber auch Spieler, die mit dem Dribbling den Zweikampf mit dem Gegenspieler suchen. Da muss man von diesem Handballsystem wegrücken.

Werden solche taktischen Trends im Frauenfußball von den Männern adaptiert?

Absolut! Man guckt genau hin. Manchmal kommt es zwar etwas später an, aber was wir jetzt bei der WM gesehen haben, sehen wir auch bald im Frauenfußball. Die Taktiken sind nicht auf ein Team ausgerichtet. Teilweise sind es Spielphilosophien, die dem Charakter des Landes oder des Verbandes entgegenkommen.

Bei Ihrer Vorstellung beim DFB haben Sie gesagt, dass die Verzahnung zwischen Männer- und Frauenfußball eine große Chance sei. Sind Sie dann indirekt auch am Neuaufbau der Nationalmannschaft der Männer beteiligt?

Nein, soweit möchte ich keinesfalls gehen. Aber ich freue mich auf den gemeinsamen Austausch.

Wie bewerten Sie den Verbleib von Joachim Löw?

Ich sehe das sehr positiv. Er hat in den vergangenen zwölf Jahren bewiesen, dass er mit schwierigen Situationen umgehen und Spieler entwickeln kann. Es ist auch eine Chance, Dinge kritisch zu hinterfragen. Das macht man im Erfolgsfall eher selten. Der Umbruch nach der WM war - unabhängig vom Ergebnis - absehbar. Es war klar, dass ein paar Spieler aufhören werden. Mit der U21 haben wir beim Confed Cup gezeigt, wie toll wir Fußball spielen können. Daran kann man ansetzen.

Auch die Nationalmannschaft der Frauen steckt im Umbruch. Kommt die WM 2019 zu früh, um auf Erfolge zu hoffen?

Ich glaube, dass wir mehr Leadertypen brauchen und die jungen Spielerinnen sich auf allen Ebenen weiterentwickeln müssen. Sie benötigen auch Turniererfahrung. Deutschland hat aber immer den Anspruch - auch im Frauenfußball - zu den Top-Nationen zu gehören.

Wie kam es zu der Krise, die im überraschenden Viertelfinal-Aus bei der EM im Vorjahr gegen Dänemark gipfelte?

Ich war erstmals mit der Schweiz bei einer EM qualifiziert und hatte den Fokus auf mein Team gerichtet. Aus der Ferne kann ich sagen, dass viele erfahrene Spielerinnen verletzt waren. Man hat es versäumt, darauf hinzuweisen. Die hohe Erwartungshaltung hat nicht zum Leistungsvermögen des Teams gepasst.

Haben die anderen Nationen aufgeholt, sodass es auch bei den Frauen keine kleinen Mannschaften mehr gibt?

Ganz genau. Es gibt zwar immer noch „kleine" Teams, aber viele hätten beispielsweise nicht mit einem EM-Sieg der Niederländerinnen gerechnet. Auch in Island, Schottland, Tschechien, Belgien und England wurde viel in den Frauenfußball investiert. Die schlägt man nicht mehr einfach so. Das war zu meiner aktiven Zeit anders. Da haben wir auch mit einer schlechten Leistung Spiele gewonnen.

Wie wollen Sie es schaffen, Deutschland wieder zurück an die Spitze zu führen?

Wir haben ein tolles Trainerteam und viel Potenzial. Ich will meine eigene Idee vom Fußball ins Team einbringen.

Wie sieht die aus?

Ich bin ein Fan vom hohen Pressing. Zudem mag ich Individualität und Spielerinnen, die den Mut haben, ins Dribbling zu gehen. Ich fordere die Spielerinnen dazu auch auf. Ich sage ihnen: Wenn du bei zehn Versuchen neunmal hängen bleibst, ist das kein Problem. Aber wenn du es neunmal nicht probierst, bist du nicht der richtige Spielertyp für mich.