Für ein Interview mit Neus Colom ist es besser, wann man gut zu Fuß ist. „Wir müssen ein kleines Stück gehen. 20 Minuten in etwa", warnt die Mallorquinerin vor. Gehen ist untertrieben, 20 Minuten auch. Eine knappe Stunde springen wir über Stock und Stein und klettern Felswände in der Nähe von Palmanova nach oben. Schließlich erreichen wir eine etwa 25 Meter große Höhle. „Das ist unsere Sporthalle, das Museo", sagt die 33-Jährige.

Ein Ausrufezeichen setzte die Mallorquinerin Anfang April, als sie als erste Frau überhaupt die Strecke „Xulita" in Mancor de la Vall bezwingen konnte. Die Route ist mit einem Schwierigkeitsgrad von 8c bewertet. „Das ist keine Wissenschaft. Die Grade werden durch ein Meinungsbild der Kletterer erstellt, die die Route absolviert haben", sagt sie. Die Werte reichen von 4 bis zu 9c (siehe unten).

An den Wänden der Höhle sieht man überall weiße Flecke, die vom Magnesium der Kletterer stammen. Das Pulver gibt den Sportlern einen besseren Halt. Alle paar Meter sind Ösen in den Fels gehauen, die als Führung für die Sicherungsleine dienen. Neus Colom wechselt die Schuhe und streift sich spezielle Kletterschuhe über, Katzenfüße genannt. Es hat etwas von Actionheld Spider-Man, wie sie in Windeseile die Wand hochkraxelt. Unten steht ein Helfer mit der Sicherheitsleine und gibt ständig Seil nach. Auf halber Strecke pausiert die Mallorquinerin und klemmt ein Bein in eine Felslücke, um die Hände zu entlasten. Kurz darauf geht es weiter. Kaum fünf Minuten braucht sie, um das Höhlendach zu erreichen. Langsam seilt sie sich wieder ab.

„Meine Eltern erzählen, dass ich schon früher gern auf Dingen rumgeklettert bin", sagt sie unten angekommen. In ihrer Jugend versuchte sich Neus Colom als castiller. Das sind die Sportler, die zu Volksfesten Menschentürme bauen. Über Bekannte dort kam sie mit 20 Jahren zum Klettern. Erst in einer Kletterhalle, dann hangelte sie sich die Felswände in Valldemossa empor. „Engancha", sagt sie - es macht süchtig.

An dem Sport mag sie besonders, dass es eine naturverbundene Aktivität an der frischen Luft ist. „Zudem ist es sehr sozial. Es ist zwar kein Teamsport, aber man hilft sich, wo man kann." Außerdem vertraue man der Person, die einen absichert, sein Leben an.

Professionell gelernt hat sie das Klettern nicht. Es sei eher ein learning by doing. „Man gibt sich in der Klettergemeinschaft Tipps, wenn es an einer Stelle mal nicht weitergeht", sagt sie. Etwa 110 Kletterer umfasst die mallorquinische Szene.

Der Weg ist das Ziel

Neus Colom hat sich auf das Sportklettern spezialisiert. „Im Gegensatz zum klassischen Klettern geht es nicht darum, einen Berggipfel zu erreichen. Die Schwierigkeit der Route steht im Vordergrund." Das ist ähnlich wie bei der Kletterdisziplin Bouldern, wobei die Sportkletterer durch ein Seil gesichert sind und die Boulderer sich nur in niedrigen Höhen bewegen, wo ein Absturz meist glimpflich endet. „Unsere Strecken hingegen sind etwa 15 bis 45 Meter hoch", sagt die 33-Jährige.

Das Projekt „Xulita" hat Mallorcas Spider-Woman bereits im Herbst 2018 angefangen. Immer wieder blieb sie jedoch an schwierigen Stellen stecken und stürzte ab. Im Winter pausierte sie, da es zu kalt war und die Felswand zu rutschig. Erst im Frühjahr konnte es weitergehen. Drei Wochenenden in Folge fokussierte sich die Mallorquinerin auf die Strecke, bis endlich „Xulita" bezwungen war. Durch den Erfolg ist sie nicht nur die beste Kletterin auf der Insel, sie steht spanienweit an zweiter Stelle. „Die bislang beste Leistung einer Kletterin weltweit war eine 9b-Route", sagt sie.

Viel Einsatz, kein Einkommen

Neus Colom arbeitet als Erzieherin in einem Kindergarten in Palmanova. Unter der Woche trainiert sie meist zwei Mal. „Und am Wochenende wird an beiden Tagen geklettert." Geld verdient sie mit ihrem Hobby nicht. „In Spanien können nur wenige vom Klettern leben." Einer von ihnen ist Iker Pou, der Lebensgefährte von Neus Colom. Der

42-Jährige aus Vitoria-Gasteiz gehört zur Weltelite im Klettern. Auch er ist heute im Museo, um ein bisschen zu trainieren. „Es ist ein Traum", sagt er zu seinem Job. Wenn Iker Pou nicht gerade selbst an der Wand hängt, dreht er Dokumentationen oder spricht als Gastredner auf Konferenzen.

Ein Paradies mit Defekten

Generell sei das Klettern auf Mallorca schon paradiesisch. „Es gibt jedoch auch ein paar Mängel", sagt Iker Pou. In erster Linie ist da die Luftfeuchtigkeit zu nennen. „Wenn der Wind aus Süden weht, kann man das Klettern meist vergessen. Denn dann bringt der Wind Nässe mit, der den Felsen glitschig macht." Das nasse Klima setzt auch dem Material zu. „In anderen Ländern könnte man etwa 25 Jahre mit der Ausrüstung klettern. Auf Mallorca müssen wir sie alle fünf Jahre wechseln", sagt Iker Pou.

Das nehmen die mallorquinischen Kletterer für die attraktiven Strecken jedoch in Kauf. „So etwas gibt es nicht oft auf der Welt", sagt der Sportler und blickt sehnsüchtig das Museo an. „Die Höhle ist fantastisch. Sie vereint auch viele Schwierigkeitsgrade: von 6c bis 9a ist alles dabei", sagt er und steigt nach oben.

So werden die Stufen gebildet

Die einfachste Strecke im Sportklettern ist eine 4, die schwierigste eine 9c. Ab der Stufe 6 werden die Grade in a, b und c unterteilt. Zwischen den Buchstaben gibt es mit einem + eine weitere Unterstufe - auf 8c folgt dementsprechend 8c+ und danach erst 9a. „Der Tscheche Adam Ondra ist der einzige Mensch, der jemals eine 9c-Route erfolgreich geklettert ist", sagt Neus Colom. Erfolgreich heißt in dem Sinn, von Anfang bis Ende ohne Absturz durchgeklettert und ohne das Sicherungsseil zu belasten. Die Anzahl der Versuche ist dabei egal. Die schwierigste Route auf Mallorca ist die sogenannte „Fraguel"-Wand in Bunyola, die mit 9a+ bewertet wird. Die Schwierigkeit einer Route hängt meist auch von den individuellen Eigenheiten ab. „Ein größerer Mensch erreicht vielleicht einige Griffe besser. Ein Mensch mit kleinen Händen kann hingegen besser in Löcher greifen", sagt Neus Colom.