Die Tour de France (6. bis 28.Juli) wirkt in diesem Jahr wie ein Ausschlussverfahren. Nach und nach brechen bereits im Vorfeld die Favoriten des bekanntesten Radrennens der Welt weg. Der viermalige Gewinner und Vorjahresdritte, Chris Froome, konnte nach einem Horrorunfall zwar die Intensivstation verlassen, muss in der Reha aber nun die zahlreichen Knochenbrüche heilen lassen. Der Vorjahreszweite, Tom Dumoulin, stürzte beim Giro d'Italia und wird nicht rechtzeitig fit. Der Sieger der Tour 2018, Geraint Thomas, kämpft derweil noch gegen die Zeit. Der Brite stürzte bei der Generalprobe, der Tour de Suisse, und musste aufgeben. Über die sozialen Netzwerke gab er zwar Entwarnung, doch statt sich im Wettkampf auf die Tour de France vorzubereiten, muss er das nun im Training tun.

Somit rückt Enric Mas immer mehr ins Scheinwerferlicht. Bei seiner bislang letzten Teilnahme bei einer großen Tour, der Vuelta a España 2018, schaffte der Mallorquiner den Durchbruch mit dem zweiten Platz in der Gesamtwertung. Er gilt als Nachfolger der spanischen Radsportlegende Alberto Contador. Das sehen nicht nur Experten so, sondern auch Mas und Contador selbst.

Bereits nach seinem bislang größten Erfolg zeigte sich der 24-Jährige aus Artà angriffslustig. „Was will ich noch bei der Vuelta? Jetzt will ich die Tour de France", antwortete Mas auf die Frage über eine mögliche Rückkehr zu der Spanien-Rundfahrt. Und legte nach: „Ich fahre da mit, um zu gewinnen."

Der Mallorquiner schlägt die forschen Töne nicht nur gegenüber den Medien an. Der 24-Jährige fährt für das belgische Team Deceuninck-Quick-Step. Sein Vertrag läuft nach der Saison aus. Die Verhandlungen ­stocken. „Er will einen Vertrag wie ein Fahrer, der bei der Tour zu den Top Fünf gehört", echauffierte sich Teammanager Patrick Lefevere gegenüber der belgischen Zeitung „Het Laatste Nieuws". „Er war Zweiter bei der Vuelta, aber die Tour ist eine andere Geschichte."

Nicht nur die Gehaltsvorstellungen von Mas sollen ambitioniert sein, sondern auch seine Ansprüche bei der Teamzusammenstellung. Der Mallorquiner will für die großen Rundfahrten Helfer an die Seite gestellt bekommen. „Er hat nach der Vuelta vergangenes Jahr danach gefragt, aber dann war im Team kein Platz mehr. Für 2020 ist noch Spielraum, sodass wir ihm diesbezüglich vielleicht etwas anbieten können", so Patrick Lefevere. Dabei widerspricht das eigentlich der Strategie des Rennstalls. Die Belgier konzentrieren sich seit Jahren erfolgreich auf die Klassiker im Frühjahr und Etappensiege. Die Erfolge von Kletterspezialisten - wie Enric Mas einer ist - in der Gesamtwertung werden zwar gern mitge­nommen, aber nicht gezielt gefördert. So schlug Lefevere Mas vor, er solle einfach den Helfern vom Team Ineos (dem früheren Team Sky) folgen. „Dann kann er sich beim letzten Anstieg mit den Besten messen." Nach viel ­Unterstützung klingt das nicht.

In den vergangenen Monaten wurde Mas immer wieder mit dem Team Movistar in Verbindung gebracht. „Wäre ich in der Vergangenheit dorthin gewechselt, hätte ich nicht den Status wie jetzt", sagte Mas in einem Interview mit „Cyclingnews" im Januar. „Dort wäre ich nur einer von vielen Fahrern und hätte vielleicht gar nicht zu den großen Touren mitgedurft." Mittlerweile könnte sich das geändert haben. Dem spanischen Rennstall droht der Verlust der Top-Fahrer Nairo Quintana, Mikel Landa und Richard Carapaz. Enric Mas müsste sich dann nur noch gegen den 39-jährigen Altstar Alejandro Valverde durchsetzen.

Auf das Wechselthema angesprochen, stand Enric Mas während eines Interviews mit der „Neuen Zürcher Zeitung" wortlos auf und ging. Auf MZ-Anfragen reagiert der früher freundliche Mallorquiner nicht mehr. Enric Mas ist gut damit beraten, eine starke Tour de France zu fahren, um seine Starallüren zu rechtfertigen.