Es war die letzte Kurve vor der Zielgeraden. Mit fast 150 Kilometern pro Stunde geriet der Formel-V-Rennwagen von Helmut Kalenborn an diesem Juni-Tag 1999 auf der links von dicht an dicht stehenden Steineichen und rechts von schroffer Felswand gesäumten Bergstraße bei Andratx ins Schleudern - um nur einen Augenaufschlag später mit ohrenbetäubendem Lärm über die Kurve hinaus den Abhang hinunterzuschießen.

Dieser von einem Zuschauer am Fahrbahnrand aufgenommene Unfall zählt zweifellos zu den spektakulärsten Szenen eines Dokumentarfilms, der im kommenden März in Palmas Trui Teatre uraufgeführt werden soll. Es ist ein Film über die Blütezeit des mallorquinischen Bergrennsports zwischen 1970 und 2000. Es ist aber vor allem die Hommage an einen Deutschen, der während dieser Zeit die Herzen unzähliger Einheimischer mit Vollgas eroberte.

„Helmut Kalenborn ist im balearischen Motorsport eine Legende", sagt Joan Gibert. Und das klingt aus seinem Mund keinesfalls kitschig. Gleich neunmal gewann Kalenborn zwischen 1983 und seinem Karriereende 2005 die regionale Meisterschaft im Bergaufrennen, den sogenannten „Pujadas". Insgesamt 34 Mal stand er bei einem von acht jährlich ausgetragenen Wertungsläufen ganz oben auf dem Siegertreppchen. Grund genug für Gilbert, selbst begeisterter Amateur-Rallyefahrer und Geschäftsführer der in Palma ansässigen Filmproduktionsfirma RLM, einen Dokumentarfilm über„El Káiser de les altures" (in etwa „Der Kaiser der Höhen") zu drehen. Zwischen 2016 und 2018 reisten Joan Gilbert und sein Team dafür unter anderem nach Deutschland, lernten Kalenborns Familie kennen und befragten bei Amateur- und Klassikrennen auf dem Nürburgring ehemalige Rennfahrer und Freunde des seit Ende der 90er-Jahre auf der Insel lebenden Rheinländers. Zu Wort kommt in dem 75-minütigen Streifen natürlich auch die Prominenz der balearischen Motorsportszene sowie ehemalige Sponsoren, zahlreiche mallorquinische Freunde von Kalenborn auf der Insel, aber auch namhafte Vertreter der nationalen und internationalen Rennsportszene, wie beispielsweise der ehemalige MotoGP-Weltmeister Jorge Lorenzo oder der frühere Formel-1-Pilot Pedro de la Rosa.

Dazwischen gibt es jede Menge historisches Film- und Fotomaterial über die seit mehr als 50 Jahren auf der Insel ausgetragenen Bergpistenrennen, bei denen einst bis zu 15.000 Zuschauer die Fahrbahnseiten entlang der Strecke säumten. „Mein Film erzählt die Geschichte dieser heute verblassenden Leidenschaft für den Bergrennsport, der sich insbesondere in den 80er- und 90-Jahren einer ungeheuren Popularität erfreute. Die Hauptrolle spielt Helmut Kalenborn, einer der besten Bergrennfahrer dieser Zeit, und ein Mensch, der aufgrund seiner stets offenen, herzlichen und unprätentiösen Art von den Einheimischen verehrt wurde, wie wohl kein anderer Ausländer vor ihm", erklärt Gibert. Der sportliche und interkulturelle Siegeszug von Helmut Kalenborn auf Mallorca begann 1976, an einem nasskalten Februartag in Euskirchen, einer Kleinstadt irgendwo auf halbem Weg zwischen Köln und Bonn.

Kalenborn, ein ortsansässiger Kfz-Meister mit eigener Werkstatt, investierte bereits seit Jahren einen Großteil seiner Ersparnisse in gebrauchte Formel-Rennwagen, um mit ihnen am Wochenende an nationalen und internationalen Rund- und Bergrennen in Deutschland, Belgien oder der damaligen Tschechoslowakei teilzunehmen. Und das mitunter erfolgreich.

1972 wurde der Kfz-Mechaniker beim internationalen 500-Kilometer-Rennen in einem Formel V 1300 auf dem Nürburgring Zweiter. Drei Jahre später ging er mit einem Formel-Super-V-Wagen bei einem professionellen Rundstreckenrennen am Hockenheim-Ring an den Start. Mit dabei: Der spätere Formel-1-Weltmeister Keke Rosberg. Dann kam der Karneval 1976. „Ich hatte mir in diesem Jahr fest vorgenommen, dem ganzen Klamauk zu entfliehen", erinnert sich Kalenborn. Über ein örtliches Reisebüro buchte er eine viertägige Pauschalreise nach Mallorca. Dort passierte das Unvorhergesehene: Auf einem eher schläfrigen Ausflug nach Sóller wurde Kalenborn schlagartig hellhörig, als der Busbegleiter von einer Straße erzählte, die von dem kleinen Orangen-Dorf auf den höchsten Berg der Insel, den Puig Major führte - und auf der jedes Jahr im September das Finalrennen der regionalen Bergrennmeisterschaften stattfand.

Nach der Rückkehr berichtete Kalenborn seinem Bekannten im Reisebüro von der Möglichkeit, im nächsten Herbst an einem Autorennen auf der Insel teilzunehmen. Der wiederum bat seinen Geschäftskontakt auf Mallorca um Unterstützung, Martin Cardona. Wie der Zufall es wollte: Cardona war neben seiner Tätigkeit als Reisekaufmann auch begeisterter Bergrennfahrer. Und darüberhinaus geradezu entzückt, dass Rennfahrer Kalenborn als erster Deutscher an einer mallorquinischen „Pujada" teilnehmen wollte. „Martin war der Schlüssel für meinen Start auf der Insel. Er sprach perfekt Deutsch, machte mich bei Freunden bekannt und beherbergte mich später über viele Jahre in seinem Haus", sagt Kalenborn. Der Deutsche kam anfangs nur jeden September für das Saisonabschlussrennen am Puig Major mit eigenem Rennwagen auf die Insel. Und sorgte dort im zweiten Jahr für Aufsehen: „Ich hatte von Hans Joachim Stuck dessen Formel-II-Rennwagen gekauft. So einen Wagen hatte man auf Mallorca zuvor noch nie gesehen. Die Leute gerieten beim Anblick schlichtweg aus dem Häuschen", erinnert sich Kalenborn.

Neid oder gar Missgunst erntete er aber nicht. „Helmut war niemals ein Aufschneider oder Prahlhans", erzählt beispielsweise Rafael Abraham, Präsident des Balearischen Motorsportverbandes im Film. „Im Gegenteil. Obwohl er sich anfangs oft nur durch Gesten oder einzelne aufgeschnappte spanische Wörter ausdrücken konnte, bot er jedem Piloten seine Hilfe an. Und das waren nie leere Versprechen." Etliche Ersatz- und Zubehörteile für die oftmals zu Rennwagen aufgemotzten Kleinwagen, aber auch seltene oder hochwertige Rennsport-Ausrüstung, die damals, in den Anfangsjahren der jungen spanischen Demokratie nur schwer zu beschaffen waren, gelangten dank Helmut Kalenborn auf die Insel. Einer der späteren größten Verehrer war am Anfang sein erbittertster Konkurrent: Joan Fernández, vierfacher Europameister im Bergrennsport.

„Helmut Kalenborn war nicht nur ein begnadeter Rennfahrer. Er ist auch aus menschlicher Sicht ein echtes Unikat", erklärt der heute in Barcelona lebende 90-Jährige in dem Dokumentarfilm.

Ab 1982 begann Helmut Kalenborn an nahezu allen, im Laufe des Jahres stattfindenden Wertungsläufen auf der Insel teilzunehmen. Bereits im Folgejahr fuhr der Deutsche beim Abschlussrennen am Puig Major zum ersten Mal als Saisonsieger über die Ziellinie. Und machte damit auch inselansässige Unternehmen auf sich aufmerksam. „Im Amateurrennsport verdient man bekanntlich kein Geld. Man macht das aus reinem Spaß und Enthusiasmus. Auf Mallorca lagen die Preisgelder für die drei Erstplatzierten zwischen 10.000 und 20.000 Peseten. Das reichte oftmals gerade für das gemeinsame Abendessen nach der Preisverleihung", erklärt Kalenborn. Die Kosten für die Teilnahme dagegen waren erheblich. Neben dem Kaufpreis des Rennwagens, der je nach Wertungsklasse und Kategorie bereits ein kleines Vermögen verschlang, fielen im Laufe einer Saison auch nicht unerhebliche Kosten für Reifen- und Teileverschleiß, Reparaturen sowie die Startgebühren an.

Ein Werbe-Sponsoring am Fahrzeug war die einzige Möglichkeit, diesen finanziellen Bluterlass zu mildern. Als einer der ersten deutschen Rennsport-Mäzene auf Mallorca ließ der ehemalige „Mietwagenkönig" Hasso Schützendorf sein Firmenlogo auf Kalenborns Rennwagen kleben. Geld gab es dafür aber nicht. „Der Mann bekommt von mir einen Mietwagen auf Lebenszeit!", rief der spleenige Schützendorf stattdessen, als ihm ein befreundeter Mitarbeiter Kalenborn im Büro des Unternehmens in Can Pastilla vorstellte. Auch die ehemalige deutsche Fluggesellschaft LTU warb viele Jahre lang mit Helmut Kalenborn als Werbeträger um Kunden. Im Gegenzug erhielt der Rheinländer zahlreiche Freiflüge zwischen Düsseldorf und Palma. Ende der 90er-Jahre wurde Toni Yoh, ein in Schanghai aufgewachsener und in den 80er-Jahren auf die Insel ausgewanderter Unternehmer auf Kalenborn aufmerksam. Der besaß mittlerweile keinen eigenen Rennwagen mehr. Yoh, der in Palma das China-Restaurant „Gran Dragón" führte, und ebenfalls vom Motorsport besessen war, ließ Kalenborn ans Steuer seines knallroten Lola-Rennsportwagens, mit dem der Deutsche zahlreiche Siege auf der Insel einfuhr. Neben dem „Gran Dragón" firmierten übrigens auch zwei weitere bekannte Restaurants als Sponsoren auf der Motorhaube von Kalenborn: Der „Celler Sa Premsa" in Palma sowie das „Ca'n Manolo" in Ses Salines. Ihre mallorquinischen Besitzer kommen als Zeitzeugen und Freunde Kalenborns ebenfalls im Film zu Wort.

1999 kam schließlich der radikale Spurwechsel im Leben von Kalenborn. Neben dem spektakulären Unfall bei der „Pujada de Son Más" bei Andratx im Juni, der erstaunlicherweise nur mit zwei gebrochenen Fußknöcheln endete, musste Kalenborn wenige Monate später von seiner sterbenskranken Mutter Abschied abnehmen. Noch vor dem Jahrtausendwechsel verkaufte er Haus und Unternehmen und zog ganz auf die Insel.

2002 wurde Kalenborn, der mittlerweile für die Event-Rennstrecke bei Llucmajor als Berater tätig war - und dort unter anderem den späteren, mehrfachen Motorrad-Weltmeister Jorge Lorenzo kennenlernte, zum letzten Mal balearischer Bergrennmeister. Im stolzen Alter von 61 Jahren. Drei Jahre später ging er am Puig Major zum letzten Mal mit einem Formel-Rennwagen an den Start. Dort erinnert seit 2014 eine vom Balearischen Motorsportverband aufgestellte, in Stein gemeißelte Gedenktafel an die sportlichen Erfolge des Deutschen, der aktuell im Ruhestand auf

Mallorca lebt.

Spaniens ehemaliger Formel-1-Pilot Pedro de la Rosa erklärt am Schluss des Films: „Das Verdienst von Helmut Kalenborn sind nicht allein seine vielen Siege auf den engen, kurvigen und mitunter lebensgefährlichen Bergstraßen der Insel, sondern dass er genau dort, als Fremder, die Bewunderung der Mallorquiner gewann."

Mit dem Handy auf den Puig Major rasen

Wer wie einst Helmut Kalenborn am Steuer eines Rennwagens über die Insel rasen möchte, braucht dafür lediglich ein Smartphone. So veröffentlichte der Softwarehersteller „Teixweb" vor wenigen Monaten eine Spiel-App für Android- und Apple-Handys unter dem Namen „Pujada Puig Major". Schauplatz des 1,99 Euro teuren Autorennspiels ist die fünfeinhalb Kilometer lange Strecke zwischen Sóller und Fornalutx, seit 1963 Austragungsort des berühmten Bergrennens. Es macht Spaß - Grafiken und Spieloptionen sind allerdings sehr einfach gestrickt. Kalenborn, der das Spiel bei seiner Markteinführung ausprobieren durfte, urteilte: „Ich fahre in der Realität eindeutig besser. Beim Spielen bin ich oftmals nicht über die erste Kurve hinausgekommen." Das kann natürlich auch als Ansporn genutzt werden. Downloads im Google Playstore sowie Apple Store. Mehr Infos gibt es auf der Internetseite puigmajorvirtual.com.