Es ist noch dunkel in den Gassen von Sóller. Wo sonst nur ein Müllauto und die ersten Lieferwagen die Ruhe stören, sind an diesem Samstagmorgen (25.1.) Sportler mit Laufrucksäcken und Kleiderbeuteln unterwegs. Die Teilnehmer des Berglaufs Serra Nord, der quer durch die Tramuntana bis nach Pollença führen wird, machen sich im Hof des versteckt gelegenen Kulturzentrums Ses Escolàpies startklar für die 44,7 Kilometer lange Strecke mit ihren 1.854 Höhenmetern. Dazu gehört: Schnürsenkel nachziehen und in den Laschen verstauen, damit sie sich nirgendwo verfangen, die obligatorische Thermodecke und ­Trillerpfeife ­checken, Handy hinten in den Bauchgurt ­stecken, vorne gut sichtbar die Startnummer festklemmen, Haferriegel und Energie-Gels griffbereit in den beiden Rucksackgurten ­verstauen, ebenso die faltbaren Trinkflaschen. Es ist gerade noch Zeit, schnell auf Toilette zu gehen, den Kleiderbeutel abzugeben und ein Gruppen­foto zu machen, bevor sich die 318 Läufer hinter der Startlinie versammeln.

Mit dem Serra Nord beginnt das Trailrunning -Jahr auf Mallorca, ich starte bereits in die dritte Saison. Waren früher Joggingrunden an der Promenade oder auf der Landstraße mein Fitnessprogramm, sind die Läufe durch die Berge heute meine Leidenschaft. Bestand das Ziel früher in einem jährlichen Halb­marathon, gehören 20-Kilometer-Strecken ­inzwischen zum wöchentlichen Trainings­programm. Und war ich früher meist allein ­unterwegs, bin ich nun eng vernetzt mit anderen Bergverrückten auf Mallorca, die auch bei Nieselregen den Galatzó erklimmen, abends mit Stirnlampe durch die Hügel von Na Burguesa rennen oder so früh aufstehen, dass sie rechtzeitig zum Sonnenaufgang auf dem Puig del Teix über Valldemossa stehen.

Eine Hupe gibt das Signal zum Start. Schon bevor wir Biniaraix erreichen, entzerrt sich das Läuferfeld: Es gibt die Cracks, die die Strecke in gut vier Stunden schaffen werden. Es gibt die Wackeren, die das Limit von bis zu neun Stunden ausschöpfen. Und es gibt das Mittelfeld, wo ich unterwegs bin und mit einer Zeit von unter sechs Stunden zufrieden sein werde. Es ist mein dritter Bergmarathon, und ich weiß, wie ich meine Kräfte einteilen muss. Zumindest theoretisch. Dazu gehört die CaCo-Strategie - caminar y correr, gehen und rennen. Ab einem gewissen Steigungsgrad sind schnelle Gehschritte effizienter als Joggen, und der steile Trockensteinweg durch den Barranc de Biniaraix ist am besten mit einer Kombination von beidem zu meistern.

Ausschlaggebend ist nicht die Geschwindigkeit, sondern der Puls - nähert er sich 170, bin ich zu schnell, ich muss mit meinen Kräften haushalten. Im Galopp den Berg hinauf, das geht nur bei den frühmorgendlichen ­cronoescaladas im Sommer, wenn es auf Mallorca ohnehin zu heiß für lange Läufe ist und stattdessen fünf bis zehn Kilometer Gipfeljagd auf dem Programm stehen. Ansonsten gibt es auf der Insel mittellange Läufe mit bis zu 20 Kilometern (Felanitx Xtrem, 5 Cims Randa, Trapa Trail), lange Läufe bis 45 Kilometer ­(Galatzó Legend, Tomir, Desafío FAS-Puig Major) und schließlich Ultraläufe mit mehr als 60 Kilometern (Mallorca 5.000 Skyrunning, Tramuntana Travessa). Sie alle finden vor allem von März bis Mai und von September bis ­November statt. Die Teilnehmerzahl ist streng begrenzt, und gerade die Plätze für die mittellangen Läufe sind schnell vergeben, manchmal innerhalb von 24 Stunden.

Beim Serra Nord wird kein Gipfel erklommen. Nach dem Barranc de Biniaraix mit seinen rund 700 Höhenmetern lassen wir den Cornadors sowie den l'Ofre rechts liegen, und nach den ersten zehn Kilometern tauchen am Horizont der Puig Major und darunter der prall gefüllte Stausee Cúber auf. Matschige Passagen zeugen vom intensiven Regen der Vorwoche. Es wird flacher, das Tempo zieht an. Die GPS-Laufuhr am Handgelenk zeigt jetzt einen Kilometerschnitt zwischen fünf und sechs ­Minuten, der Puls sinkt unter 160 Schläge pro Minute - ein Tempo, bei dem man sich noch unterhalten kann, aber nicht unbedingt will. Mein Laufpartner Pedro und ich wechseln nur die nötigsten Worte.

Rote Karte für Müllsünder

Bei Kilometer 12, an der Brücke des Cúber, erreichen wir den ersten Verpflegungsstand. Statt wie bei einem Straßenmarathon im Vorbeihetzen eine Wasserflasche zu greifen, machen wir halt und füllen die mitgebrachten Trinkflaschen aus Kanistern auf. Schokolade, Nüsse und Orangenschnitze stehen bereit. Es wird nur noch zwei weitere Verpflegungsstationen geben, in Lluc sowie im Ziel. Zwischendurch ist Selbstversorgung angesagt, wobei alle Riegel und Gels mit der Startnummer des Läufers markiert sein müssen. Denn sollte sich nach dem Lauf Verpackungsmüll auf dem Weg finden, droht die Disqualifizierung.

Und es gibt noch mehr Regeln: Am Coll des Prat, unterhalb des Massanella, erreichen wir eine neutralisierte Zone. Der Weg ist auf einem Kilometer so erodiert, dass Rennen und Überholen verboten ist. Trotz großer und zügiger Schritte steigt der Kilometerschnitt auf zwölf Minuten. Danach, bei rund 1.200 Höhenmetern, erreichen wir den Gipfelpunkt des Laufs. Das Meer am Horizont, Wind auf der verschwitzten Haut, vor uns der steinige Pfad, der sich in Serpentinen zwischen kargem Buschwerk bergauf und bergab windet. An manchen Stellen ist er nur dank der rot-weißen Markierungsbänder zu erkennen.

Wer dagegen auf eigene Faust in unbekanntem Gelände unterwegs ist, orientiert sich an einem Track, also einer Aufzeichnung von GPS-Koordinaten, die vorab auf die Laufuhr geladen werden. Ein Pfeil auf dem Display weist den Weg, und kommt man von ihm ab, wird die Distanz zur richtigen Strecke angezeigt. Die Laufuhr zeichnet ohnehin jede Trainingsstrecke auf und sendet sie - inklusive der Daten zu Distanz, Tempo oder Höhenmetern - zum Beispiel an die App Strava. Dort kann sie genauso wie in anderen sozialen Netzwerken geteilt und kommentiert werden.

Die Hälfte der Strecke ist fast geschafft, ab Kilometer 21 geht es durch Steineichenwald steil bergab Richtung Lluc. Es ist eine Mischung aus laufen lassen und Tempo machen einerseits und doch irgendwie die Kontrolle behalten andererseits. Steinplatten, Wurzeln, lose Kiesel, Pfützen, Wackelsteine, Schotter, Matsch - wohin der nächste Schritt führt, ist eine ständige blitzschnelle Entscheidung, die für Adrenalin sorgt und den Kopf frei macht. Spätestens jetzt sind alle störenden Gedanken verbannt. Hier und jetzt gibt es nur den Weg. Balance halten, ausgleichen, weiterlaufen.

Downhill beansprucht den ganzen Körper, auch deswegen trainieren Trailläufer nicht nur in den Bergen. Die Beinmuskulatur muss im sogenannten exzentrischen Training lernen, ständig Bewegungsgeschwindigkeiten abzubremsen. Die Körpermitte mit ihren Rücken- und Bauchmuskeln muss gestärkt werden. Und grüßen lässt auch der Psoas-Muskel - der Hüftbeuger verbindet Ober- und Unterkörper. Zum Ausdauertraining geht es in die Berge, für die Geschwindigkeit dagegen steht Intervall-Training an - Tempoläufe im Rundkurs mit ­wenigen Hundert Metern im Sa-Riera-Park in Palma, die bis zu 15 Mal wiederholt werden, oder auch Treppen laufen am Castell Bellver.

So etwas macht im Team deutlich mehr Spaß. Auch beim Serra Nord ist meine Truppe von Spartan SGX Islas Baleares mit sechs Läufern vertreten. Drei von ihnen stoßen in Lluc dazu, hier wird rund 20 Minuten nach unserer Ankunft der Serra Nord XS mit immerhin noch 18 Kilometern gestartet. Ich bin noch so im Flow, dass ich beinahe in den Innenhof der Pilgerstätte laufe, statt für eine kurze Verschnaufpause zur Verpflegungsstation abzubiegen.

Beim Überqueren der Tartanmatten hinter der Station piept es, es wird der im Schuh ­verschnürte Laufchip erfasst. Zwischenzeit: 3:43:25. Der Weg führt wieder rund 300 Höhenmeter nach oben, und ich merke, dass ich die letzten Kilometer vor Lluc zu schnell angegangen war - der Bergab-Flow macht zwar Spaß, aber er kostet mich mehr Kraft als das kontrollierte Bergauf. Für die Motivation ist auch nicht förderlich, dass mich irgendwo kurz vor Kilometer 30 die noch frischen Läufer und Cracks des Serra Nord XS zu überholen beginnen. Statt den Weg zu blockieren, werden die Schnelleren mit Handzeichen links oder rechts auf dem engen Waldpfad vorbeigelotst. Trailläufer sind nun einmal die Gentlemen unter den Sportlern: Beim Überholen gehört das Aufmuntern oder Anfeuern der Mitläufer dazu.

Ich finde meinen Rhythmus wieder. Dass die letzten zehn Kilometer die knackigsten würden, war schon vorher klar. Den Sechs-Minuten-Schnitt kann ich trotz ebenem Gelände nicht halten, aber ich laufe konstant weiter. Kilometer 40 - wo bleibt Pollença? Es geht weiter über die eine oder andere Mauer am Fluss entlang. Endlich kommt Zivilisation in Sicht. Die letzten ­Meter durch die Gassen, bevor auf dem Dorfplatz nach gut fünf Stunden und 50 Minuten die Ziellinie erreicht ist. Ich bin zurück auf der Erde.

Information zu Bergläufen und Training

fbmweb.com/index.php/curses-per-muntanya/

www.elitechip.net

sportmaniacs.com/es/races/search/baleares-illes

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