Vor 60 Jahren scherten sich die Mallorquiner wenig darum, wenn 22 Männer einem Ball hinterherrannten. Denn das Interesse der Insulaner galt damals fast ausschließlich dem Fahrrad. Und Guillermo Timoner, der wie kein anderer den Radsport auf der Insel prägte, hatte einen ähnlichen Heldenstatus auf Mallorca wie ein Rafael Nadal heute. Jetzt, kurz vor dem 125. Geburtstag des ersten Radclubs der Insel, bröckelt der Ruhm der Sportart ähnlich wie die Ruinen der früheren Radrennbahnen, auf denen einst glorreiche Siege gefeiert wurden.

Damit der eigene Ursprung nicht völlig in Vergessenheit gerät, lässt sich der balearische Radsportverband etwas einfallen. Zum Jubiläum hat der Verband mit der Balearen-Universität (UIB) eine Kooperation abgeschlossen: In dem von der Balearen-Regierung geförderten Projekt soll der Sporthistoriker Pere Fullana die Archive der balearischen Radsportgeschichte durchwühlen und eine große Ausstellung organisieren. „Dabei geht es um alles, was mit dem Fahrrad zu tun hat - vom Verkehrsmittel über das Sportgerät bis hin zum Faktor für den Massentourismus", erklärt Verbandspräsident Fernando Gilet.

Die Anfänge

„Der Radsport war der erste organisierte Sport, der nach Mallorca kam", sagt Gilet. Der Radsportverband sei sogar der älteste Sport­verband Spaniens. Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete sich das Fahrrad als neue Technologie weltweit. Für die Mallorquiner war es ein willkommenes Verkehrsmittel. „Die Distanzen von Dorf zu Dorf waren kurz", erklärt Gilet. Die Bewohner strampelten die Kilometer ­gemeinsam ab, es entwickelten sich erste Rivalitäten und Wettrennen. „Die schlechten Straßen und Wege erschwerten das Radfahren", schreibt der Hobbyhistoriker Manuel García. „Die Nachfrage nach einer geschlossenen Bahn wurde größer: dem Velodrom."

Am 28. August 1892 weihte Felanitx auf dem Puig de Sant Nicolau schließlich die erste Radrennbahn der Insel ein, und in den Jahren darauf folgten viele weitere Dörfer. Die Gründung des Veloz Sport Balear 1896 in Palma, dem ersten Club, gilt als Ursprung des mallorquinischen Radsports, der nach der Jahrhundertwende so richtig Fahrt aufnehmen sollte.

„Die Geschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Mallorca lässt sich nicht ohne den Radsport erklären", betont Gilet. Die Rennbahn El Tirador, die Palma am 10. August 1903 in Betrieb nahm, sollte in den folgenden Jahren ein spanisches Monument des Radsports werden. „Heute ist es die zweitälteste Rennbahn, die noch existiert."

Dabei unterscheidet die Radsportwelt zwischen zwei unterschiedlichen Bahnarten - den voltadoras und den velódromos. Erstere ­waren meist einfache Rundkurse, die mit einem normalen Fahrrad gefahren werden konnten. Die Velodrome dagegen waren steiler.

Der Radsport fand viele Anhänger, auch weil es an Alternativen mangelte. Ballsportarten hatten damals noch nicht den Durchbruch auf der Insel geschafft. Der Fußball nahm erst ab 1910 langsam Fahrt auf, als deutsche Matrosen auf der Insel kickten. Damals mussten als Stadion die Innenräume der Radrennbahn herhalten. „Aber in den Anfangsjahren stellten auch so mancher Mallorquiner das Rad nach einer kurzen Probe wieder in die Ecke, da ihnen der Sport nicht zusagte", so García.

Der Höhepunkt

„Ab 1907 nahm die Zahl der Rennen auf der Insel stetig zu", sagt Gilet. „Der Radsport war der erste Massensport der Insel." Tausende Zuschauer strömten zu den Rennen. Es waren die Geschwindigkeit und die Gefahr, die die ­Mallorquiner begeisterten - ein Hauch von modernen Gladiatorenkämpfen. Die Königsdisziplin war die Motorradverfolgung, bei der die Radfahrer im Windschatten der motorisierten Gefährte unterwegs waren. Ein Sturz bei hohem Tempo endete durch den Aufprall auf dem harten Beton nicht selten tödlich. Wer ihn überlebte, konnte dann immer noch vom Motorrad überrollt werden. Sechs Radfahrer ließen auf dem Tirador ihr Leben. Die Bahn entwickelte immer mehr einen Mythos, und die starken mallorquinischen Radfahrer ließen sich bei den Heimrennen die Siege oft nicht nehmen. „A Tirador se viene a perder" - zum Tirador kommt man, um zu verlieren, war ein weit verbreiteter Spruch.

Die Rivalität einzelner Radfahrer übertrug sich - wie bei den Fußballclubs heute - meist auf den ganzen Ort. „Jedes Dorf hatte seinen eigenen Star. Algaida hatte Andrés Trobat, ­Sineu Francisco Alomar, und Sant Joan hatte Gabriel Company", sagt Gilet. Die Fans unterstützten die Sportler finanziell und gründeten Fanclubs, aus ihnen gingen viele noch heute existierende Radvereine hervor.

Ein Mallorquiner aber übertraf sie alle: ­Guillermo Timoner. „Er ist der große Star, und er lebt heute noch. Alle Jugendlichen wollten so sein wie er", sagt Gilet. Der 94-Jährige aus Felanitx war sechs Mal Weltmeister und dominierte den Bahnradsport zwischen 1955 und 1965.

Der Absturz

Ab den 1960er-Jahren schwand immer mehr die Begeisterung für die Bahnradrennen. Der Tourismus gewann an Bedeutung, und die Mallorquiner hatten Geld, um sich anderen Sachen zu widmen. Zudem befanden sich andere Sportarten im Aufschwung und warben die Zuschauer ab. „Auch das Fernsehen hat seinen Teil zum Popularitätsverlust beigetragen", sagt Gilet. Die Velodrome verfielen und wurden von Unkraut überwuchert. Einige wurden umgebaut, andere, wie der Tirador, überlebten als Ruine. Mit der Bahn in Sineu, die von Hobbysportlern unter der Regie des deutschen Bahnradfahrers Jan Eric Schwarzer genutzt wird, und einer renovierten Piste in Son Moix bleiben von den einst 40 Velodromen und Voltadoras nur noch zwei. Mit dem Velòdrom Illes Balears, früher Palma Arena, gibt es zwar eine Bahnradhalle, diese findet aber auf internationaler Ebene kaum Beachtung.

Das liegt auch daran, dass der Sport in Spanien wenig gefördert wird. „Der Bahnradsport leidet. Die Versuche des spanischen Verbands, ihn wieder zum Leben zu erwecken, sind bislang gescheitert", sagt Gilet. „In der Ausbildung der Radfahrer ist die Bahn zwar wichtig. Wenn die Sportler aber Profis werden wollen, merken sie schnell, dass es das große Geld eher mit dem Straßenrad oder dem Mountainbike zu verdienen gibt." Aus Verbandssicht sei das bedauernswert, da die Balearen in jüngerer Vergangenheit auf der Bahn immer noch zur Weltelite zählen. Joan Llaneras aus Porreres holte um die Jahrtausendwende zwei Mal Olympiagold und sieben Weltmeistertitel. Der 30-jährige Menorquiner Albert Torres ist Weltmeister und vierfacher Europameister. Diese Titel sind heute neben einem Grand-Slam-Sieg von Nadal oder einem Aufstieg von Real Mallorca oft nur noch eine Randnotiz. "Generationenbedingt", nennt Gilet das heutige Desinteresse am Bahnradsport.

Im Straßenradsport hat man das Gefühl, dass Mallorca sein Potenzial nicht völlig ausschöpft. Die Weltelite trainiert regelmäßig auf der Insel. Jährlich kommen Hundertausende Radsporttouristen. „Die spülen aber keinen einzigen Euro in die Verbandskasse", sagt ­Gilet. Was der Insel bleibt, ist mit Enric Mas ein sportliches Aushängeschild, das sich aber auf der ganz großen Bühne noch beweisen muss. Einen Profirennstall gibt es auf der Insel seit 2006 nicht mehr, als die Balearen-Regierung als Geldgeber beim heutigen Movistar-Team ausschied.

Die Zukunft

Das fehlende Interesse liegt auch am Mangel an großen Events. „34 Jahre ist es her, dass die Vuelta a España zuletzt auf Mallorca haltmachte", so Gilet - ein Problem, das man als Verband nicht allein angehen könne. „Dafür muss man Politik, private Geldgeber und Verbände an einen Tisch bringen. Uns fehlt ein Zugpferd in Form eines großen Events. Und das geht heute nur im Straßenradsport."

Bislang kann Mallorca nur die jährliche Playa de Palma Challenge aufweisen. Das Rennen im Januar ist beim Weltverband UCI als zweitklassiges Event eingestuft. Die Profis kommen meist nur, wenn es ihnen als Auftakt in den Terminkalender passt oder weil sie ohnehin bereits auf der Insel trainieren. Und dass die vier Rennen auf der Insel unabhängig voneinander sind, ist für die Zuschauer weniger attraktiv - es gibt keinen Gesamtsieger. Als gescheitert kann man auch das Finale der Six Days Series ansehen, das 2017 und 2018 in Palma stattfand. „In der spanischen Kultur ist es nicht mehr vorgesehen, für Radsport Eintritt zu bezahlen. Diese Tradition hat Palma verloren", so Gilet.

Zudem gehe durch das Verbot von Alkoholausschank und strenge Vorgaben für Lichtshows das Ambiente verloren.

Doch der Präsident hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Vom 4. bis 6. September werden die spanischen Meisterschaften der ­Junioren und Senioren auf Mallorca ausgetragen. „Das ist unser Pilotprojekt, um ein Profirennen auf die Insel zu bringen." Gilet träumt von einer Straßenmeisterschaft oder sogar ­einem neu erfundenen Radsportklassiker. „Der Jahrestag soll der Anstoß für ein neues Zeit­alter im Radsport sein."