Der 43-jährige Iker Pou und sein drei Jahre älterer Bruder Eneko gehören zu den besten Kletterern der Welt. Es gibt nur wenige Tage im Jahr, an denen die Basken aus Vitoria-Gasteiz nicht in den Bergen unterwegs sind. „Das haben wir von unseren Eltern geerbt", sagt Iker Pou. „Der Familienurlaub ging fast immer in die Alpen oder die Pyrenäen." Wenn die Brüder nicht auf Reisen sind, suchen sie in ihrer zweiten Heimat auf Mallorca neue Kletterrouten. Im Interview erklärt der jüngere Bruder, warum ihn weder der Everest noch die Weltmeisterschaft reizt und warum er seine Neuentdeckungen lieber geheim hält.

Als eine Ihrer großen Stärken nennen Sie auf Ihrer Website Ihre „außergewöhnlichen Finger". Ist es also ein angeborenes Talent?

Ich habe ziemlich kräftige Wurstfinger. Ich kann mein Körpergewicht mit ein oder zwei Fingern in Löchern an der Felswand festhalten. Dafür musste ich nicht wirklich trainieren.

Klettern zählt in Spanien noch zu den vermeintlich „kleinen" Sportarten. Sie können davon leben?

Die Klettergemeinschaft wächst stetig. Den jungen Leuten gefallen solche Extremsportarten immer mehr. Wer es einmal ausprobiert hat, wird süchtig danach. Den Vergleich zu den Ballsportarten brauchen wir aber noch nicht zu ziehen. Um vom Klettern leben zu können, müssen wir ständig dafür kämpfen. Wir halten viele Vorträge in Rathäusern oder in Kletterclubs. Dafür müssen wir viele Videos drehen, um zu zeigen, was wir machen. Dadurch gewinnen wir Sponsoren.

Wie sind Sie zum Profi geworden?

Nach der Schule habe ich sechs Jahre lang in Kletterhallen in meiner Heimat gearbeitet. Nebenbei haben mein Bruder und ich geführte Touren durch die Berge veranstaltet. Bis wir an den Punkt angelangt sind, dass wir uns selbst vermarkten konnten. Unser erstes großes Projekt war, die sieben Kontinente zu bereisen und überall die bekanntesten und schwierigsten Wände zu klettern. Das hat fünf Jahre gedauert und war für uns das Sprungbrett in die internationale Kletterszene.

Dabei haben Sie aber die ganz großen Berge ausgelassen...

Wir suchen eher die Schwierigkeit als die Höhe. Mein Bruder hat mit dem Annapurna im Himalaja aber einen 8.000er bezwungen.

Hat Sie der Mount Everest nie gereizt?

Das hat nicht viel mit Klettern zu tun. Das ist eher Laufen. Es ist nicht attraktiv, mit Hunderten Leuten in einem Basiscamp zu sein und dann mit allen an einer Leine den Berg hochzugehen. Das ist ja wie auf einer Rolltreppe

im Corte Inglés. Vielleicht machen wir das irgendwann, wenn wir zu alt zum Klettern sind. Im Moment suchen wir uns lieber Orte abseits der Masse.

Sie gehören zur Weltelite, beteiligen sich aber nicht an Wettkämpfen. Warum nicht?

Unsere Eltern haben uns diesen sportlichen Ehrgeiz nie eingetrichtert. Bei ihrer Erziehung ging es eher um die Liebe zu den Bergen und das Klettern als Entwicklung der Persönlichkeit. Turniere habe ich nie gemocht, da man dort Plastikstrukturen emporkraxelt. Das ist zum Training hervorragend, hat aber nichts mit den Bergen zu tun. Das ist, wie wenn man Fußball und Golf vergleicht. Man spielt beides mit einem Ball, aber ansonsten haben beide Sportarten wenig gemein. Ich habe mit 16 Jahren an einer spanischen Meisterschaft teilgenommen - und das nur, weil Freunde mich dazu eingeladen hatten. Mit einem dritten Platz schnitt ich ganz gut ab. Der Veranstalter wollte mich als junges spanisches Talent zu einer Weltmeisterschaft mitnehmen. Ich schloss das kategorisch aus. Dafür bin ich zu nervös, und ich hatte keine Lust, den ganzen Tag zu warten, um einen Versuch an der Wand zu haben.

Klettern sollte in diesem Jahr in Tokio erstmals olympisch werden...

Für Olympische Spiele bin ich schon zu alt. Dass Klettern eine olympische Sportart ist, hat Vor- und Nachteile. Es bringt dem Sport mehr Professionalität. Dadurch können mehr Kletterer davon leben. Mit Alberto Ginés hat sich ein Spanier qualifiziert, der zum Aushängeschild werden könnte, und viele Leute zum Klettern inspirieren könnte.

Und der Nachteil?

Es wird viel mehr Leute geben, die in der Natur klettern. Dadurch wird es zu voll. Dann kommen Stadtmenschen ins Gebirge. Die lieben die Natur nicht und sehen die Berge nur als Sportgerät.

Sie sind in 59 Ländern auf der Welt geklettert. Wo war es am schönsten?

Das ist schwierig zu sagen. Jedes Mal, wenn mein Bruder und ich von einer Reise zurückkommen, sagen wir: „Das war der Hammer!" Vor zwei Jahren waren wir auf São Tomé und Príncipe vor der westafrikanischen Küste. Mitten im Dschungel ragt dort eine Wand wie ein Turm empor. Die Einheimischen haben uns verdutzt angeguckt, als wir ihnen sagten, dass wir dort inmitten von schwarzen Kobras klettern wollen.

Eine Expedition führte in die Antarktis.

Wir waren an beiden Polen. 2008 sind wir im Rahmen unserer Kontinente-Tour von Südamerika aus Richtung Antarktis gestartet. Wir sind die ganze Küste entlanggefahren, um eine Kletterstelle zu finden, wo es auch Stein und nicht nur Eis gibt. Das hat ewig gedauert, aber wir haben es letztlich geschafft. Später waren wir auf der Baffininsel in Kanada, die zur Arktis gehört. Die Inuits brachten uns dorthin. Wir wussten aber nicht, wann wir wieder zurückkommen. Denn das hing vom Eis ab. Wissenschaftler hatten uns Koordinaten gegeben, wo ihrer Meinung nach eine Felswand sei. Einzelheiten konnten sie uns aber nicht nennen. Die Inuits kannten die Gegend nicht, da es außerhalb ihres Jagdgebiets liegt. Sie warnten uns nur vor den Eisbären und gaben uns drei Gewehre mit. Wir haben einige gesehen, sie haben sich aber zum Glück nicht für uns interessiert. Wir sind zweieinhalb Monate dort geklettert, bis uns das Essen ausging. Wir mussten zwei Wochen ausharren, ehe uns die Inuit wieder einsammeln konnten.

Das Klettern ist auch sonst nicht immer ungefährlich. Mussten Sie schon mal um Ihr Leben fürchten?

Das Sportklettern an sich ist ziemlich sicher. Manchmal muss es aber wegen der Wetterumschwünge schnell gehen. In der Antarktis hatten wir bei den Ausflügen nur wenig Zeit und hatten das Material knapp kalkuliert. Ich musste mich an einer 400 Meter hohen Wand abseilen und konnte nur wenige Fixpunkte mit Haken setzen. Auf einmal springen mir alle bis auf einen raus. Ich konnte mich gerade noch am Fels festhalten. Gefährlich wird es meistens, wenn Eis und Schnee mit im Spiel sind. In den vergangenen Jahren haben wir viele Kollegen dadurch verloren.

Sie sollen auch schon mal fast aus einer Hängematte in 800 Meter Höhe gefallen sein...

Da waren wir an der berühmten Kletterwand El Capitan im Yosemite-Nationalpark in den USA. Wir sind bis zum letzten Sonnenstrahl geklettert, uns fehlten noch 300 Meter nach oben. Wir haben in Windeseile die Hängematte zum Schlafen an den Fels angebracht. Ich hatte schon gemerkt, dass es etwas wacklig ist, dachte aber, zum Schlafen wird es schon reichen. Als sich mein Bruder dann im Schlaf umdrehte, hat sich auch die Hängematte gedreht. Wir waren noch durch unsere Ausrüstung gesichert, aber das war ein witziger Schreckmoment, als wir um drei Uhr morgens in der Luft hingen und schreiend 800 Meter in die Tiefe blickten.

In früheren Interviews haben Sie gesagt, dass „Artaburu" in Tarragona die schwierigste Strecke ist, die Sie je geklettert sind. Was macht die Route so kompliziert?

Sie hat mich mehr Kraft als alle anderen gekostet. Ich habe sie als Erster geschafft und durfte sie daher benennen. Artaburu ist baskisch und heißt in etwa Dickschädel. Weil ich so stur war, bis ich es endlich überwunden hatte. Sechs Jahre habe ich dafür gebraucht. Im Sportklettern zählt eine Route nur als bestanden, wenn man die Strecke klettert, ohne die Sicherungsleine zu belasten. Jahrelang konnte ich alle Griffe, bin aber immer wieder an unterschiedlichen Punkten rausgeflogen.

Warum haben Sie der Strecke keine Schwierigkeit gegeben, wie es nach einer Erstbegehung üblich ist?

Die jungen Kletterer sehen heutzutage nur noch Zahlen und suchen sich die schwierigsten Routen. Ich möchte aber, dass die Leute Artaburu wegen ihrer Schönheit klettern. Sie ist einzigartig. Ehrlich gesagt, kann ich die Schwierigkeit auch schlecht einschätzen. Ich würde auf 9a+ tippen. Das Maximum derzeit ist eine 9c.

Auf Mallorca finden Sie regelmäßig neue Routen. Wie ist das auf einer so gut besuchten Insel möglich?

Wir haben das Glück, dass es fast an der ganzen Küste Felsen gibt. Das ist ideal für Psicobloc, dem Klettern über dem Meer. Mallorca ist in dieser Hinsicht dem Rest der Welt weit überlegen. Praktisch alle Kletterstellen, die man zu Fuß erreichen kann, sind auf der Insel entdeckt. Doch es gibt noch viele Routen, an die man nur per Boot rankommt.

Sie wollen die Standorte der Kletterstellen nicht rausrücken. Warum?

Das Umweltministerium verbietet derzeit alles in der Natur, ohne wirklich zu prüfen, was die Probleme sind. Verbieten ist einfacher, als etwas zu regulieren. Aus Sicht von uns Kletterern, die die Natur lieben, ist das eine Sauerei. Daher sagen wir auch nicht, wo die Kletterstellen sind. Wir fühlen uns verfolgt. Als wenn wir eine Bank ausgeraubt hätten. Einige Mitarbeiter der Behörde durchforsten das Internet nach Videos, um Knöllchen für Klettertouren vor acht Jahren auszustellen.

Sie haben aber selbst gesagt, dass immer mehr Kletterer kommen, die die Berge als Sportplatz sehen...

Deswegen geht es darum, Richtlinien aufzustellen. Bestimmte Gebiete muss man für die Pflanzen- und Tierwelt schützen. Aber darüber muss man reden. Und das tut auf Mallorca keiner. Das ist traurig, dass man die Insel in dem Punkt nicht ausnutzt. Klettern könnte wie der Radsport eine Alternative für nachhaltigen Tourismus sein. Viele Leute könnten davon leben.

Was raten Sie den Kletteranfängern?

Vor allem sich gut auszubilden. Anfängerkurse gibt es beim Kletterverband derzeit nur wenige. Ein guter Anfang wäre das Klettern in den beiden großen Kletterhallen in Palma und Inca. Das ist besser als auf gut Glück mit Freunden loszuziehen. Danach kann man sich die ersten Kletterstellen in der Natur suchen. Eine gute Wand für Anfänger ist s'Estret in der Nähe von Valldemossa.